WENN BEN CHRISTO, GITARRIST BEI THE SISTERS OF MERCY, NICHT GERADE MIT ANDREW ELDRITCH AUF TOUR IST, KÜMMERT ER SICH UM SEINE EIGENE BAND: NIGHT BY NIGHT, EINE DER GROSSEN NEUEN HARDROCK-HOFFNUNGEN AUS GROSSBRITANNIEN. RENOMMIERTE MAGAZINE WIE DAS CLASSIC ROCK LOBTEN DAS SELBSTBETITELTE DEBÜTALBUM VOR ALLEM DAFÜR, DEN KLASSISCHEN HARDROCK-SOUND DER ACHTZIGER MIT LEIDENSCHAFT UND EINEM TOUCH MODERNE INS JAHR 2014 ZU KATAPULTIEREN. CHRISTO, SELBST ERST ANFANG DREISSIG, WURDE VON EINEM ONKEL MIT DEM MÄCHTIGEN UND BEI ALLER HÄRTE MELODIÖSEN POWERSOUND VON DEF LEPPARD, JUDAS PRIEST, AC/DC ODER JUDAS PRIEST INFIZIERT UND BLIEB IHM TREU – OBWOHL GERADE ZU DER ZEIT, ALS ER MUSIK ENTDECKTE, GRUNGE SEINEN SIEGESZUG ANTRAT UND BANDS MIT LANGEN GITARRENSOLI, SPANDEXHOSEN, GROSSEN GESTEN UND TEXTEN ÜBER WILLIGE FRAUEN ODER UNWILLIGE DRACHEN ÜBERHAUPT NICHT MEHR ANGESAGT WAREN.
KLUGERWEISE HABEN NIGHT BY NIGHT BEI IHRER WIEDERERWECKUNG DAS MIT DEN HOSEN, DEN GESTEN UND DEN TEXTEN PEINLICHKEITSFREI NIVELLIERT UND KONZENTRIEREN SICH AUF DIE LANGEN GITARRENSOLI, DEN MEHRSTIMMIGEN GESANG UND DIE HYMNISCHEN SOUNDS DES GENRES.
TROTZDEM IST DIE ERSTE FRAGE AN BEN BEI UNSEREM INTERVIEW VORPROGRAMMIERT: WAR ES NICHT ZIEMLICH SCHWIERIG, IN DER SCHULE DIE FAHNE FÜR AUSGERECHNET DIESE, ALS VÖLLIG UNCOOL GEBRANDMARKTE MUSIK HOCHZUHALTEN?
Ja, das war manchmal schon komisch. Wenn ich gefragt wurde, was ich auf meinem Walkman hörte, den anderen dann die Ohrhörer gab und ihnen begeistert von JUDAS PRIEST erzählte, kam meistens: „Was ist das denn für ein Zeug?“ In meiner Klasse hörten alle REEF und RED HOT CHILI PEPPERS, FEAR FACTORY, KORN oder COALCHAMBER. Aber ich konnte damit nie so richtig viel anfangen. Diese Achtziger-Sachen hingegen fand ich einfach toll wegen der ausgefeilten Produktion – und weil die musikalischen Fähigkeiten so im Mittelpunkt standen. Als ich anfing, Gitarre zu spielen, hörte ich mir diese ganzen Typen an, die Grunge gerade kaltgestellt hatte. Bei NIRVANA war ja alles aufs Nötigste reduziert, keine Samples, keine übereinander gelegten Vocals, keine mehrstimmigen Harmonien. Tja, und jetzt kommt diese ganze Glamrock-Geschichte wieder zurück, mit Bands wie STEEL PANTHER oder RECKLESS LOVE – der Kreis schließlich sich.
SEIT WANN IST DENN DER SCHON SO OFT TOT GESAGTE HARDROCK WIEDER COOL?
Also, ich glaube, das fing schon im Jahr 2000 an, als PAPA ROACH „Infest“ veröffentlichten, mit einem Riff, das für mich ziemlich nach Priest und Maiden klang. Viele Bands aus Skandinavien – CRASHDIET, HARDCORE SUPERSTAR, BACKYARD BABIES und so – konzentrierten sich auch wieder auf mächtige Refrains und starke Vocals.
HABT IHR DESWEGEN SO EINE ENGE VERBINDUNG ZU SKANDINAVIEN? IHR STEHT JA BEI EINER SKANDINAVISCHEN MANAGEMENT-AGENTUR UNTER VERTRAG, UND IHR HABT VIEL IN SCHWEDEN UND FINNLAND GESPIELT. WIE KAM DAS?
Na ja, ich bin ganz gut mit den DEATHSTARS befreundet, und so konnten wir schon 2006 mit ihnen in Finnland auf Tour gehen. Und dann ist da noch Jo Sheldon, eine Amerikanerin, die in Helsinki das so genannte Trash Fest organisiert, ein Festival mit Bands aus Glam Rock, Goth und Industrial, und der war ich aufgefallen, weil ich schließlich auch bei den SISTERS OF MERCY spiele. Wir sind gleich ein paar Mal beim Trash Fest aufgetreten, und dadurch bekamen wir plötzlich jede Menge 18-, 19-jährige Fans, Leute, die uns hinterher reisten, total begeistert von unserer Musik waren und Street-Teams gründeten, um uns zu unterstützen. In Großbritannien dagegen spielen wir eher von einem älteren Publikum, das mit dem Sound der Achtziger aufgewachsen ist. Die mögen uns, weil sie meinen, dass wir ein bisschen wie BON JOVI klingen, nicht unbedingt, weil wir etwas Eigenes machen und in unseren Sound durchaus auch andere Einflüsse einfließen lassen, wie FUNERAL FOR A FRIEND oder SEVENDUST. Deswegen haben wir bei unserem Album auch explizit mit dem Produzenten Romesh Dodangoda gearbeitet, der auch viele moderne, harte Bands betreut hat, wie BULLET FOR MY VALENTINE, THE BLACKOUT oder FUNERAL FOR A FRIEND. Wir wollten eben nicht den abgestandenen 80er-Sound-kopieren, sondern nur dessen Essenz ganz modern präsentieren.
AN DIE 80ER ERINNERN JEDENFALLS EURE LANGEN GITARRENSOLI. WIE LEGT IHR FEST, OB DAS SOLO IN EINEM SONG VON DIR GESPIELT WIRD ODER VON TOM DANIEL, DEM ZWEITEN NIGHT BY NIGHT-GITARRISTEN?
Bei uns läuft das immer ganz fair – tatsächlich teilen wir auch viele der langen Soli. Bei „Siren“ zum Beispiel fange ich mit einer sehr melodischen Gitarre an, und dann setzt Tom mit schnellem Picking ein, technisch viel versierter, klassischer. Ich lege meist mehr Wert auf soundtrackartige, bildhafte Sounds, und er spielt schneller und aggressiver und betont dadurch andere Seiten der Songs. Soli sind uns sehr wichtig. Natürlich können sie einfach nur eine Überbrückung sein oder ein bisschen Angabe, und heutzutage höre ich oft auch Leute, die einfach nur Tonleitern raushauen, aber das ist keine Musik. Mir gefallen Soli, die reflektieren, was in dem Song vorher passiert ist, die das Thema verstärken und ausbauen. Man muss das Solo mit Respekt behandeln und ihm genauso viel Aufmerksamkeit widmen wie der Melodie und dem Text.
DAS IST NACH DER LANGEN ZEIT, IN DER DAS GITARRENSOLO SOZUSAGEN VERBOTEN WAR, NICHT GANZ SO EINFACH.
Na ja, und wenn man sich an die Neunziger erinnert, an diese Zeitschriften, die sich ganz allein diesen Gitarristen verschrieben hatten, denen es nur darum ging, möglichst schnell, völlig übertrieben und theatralisch zu spielen, dann hatte das auch seine Berechtigung … Es war gut, dass Grunge mit all dem Schluss gemacht hat, damit man die Musik und die Emotionen dahinter wieder mehr ins den Mittelpunkt rückte.
WAS DIE EMOTIONEN IN EUREN SONG ANGEHT, DOMINIEREN IN VIELEN SONGS BEGRIFFE WIE „REGRET“, „TOO LATE“, „IF ONLY“ – BEDAUERN SCHEINT EIN GROSSES THEMA FÜR EUCH ZU SEIN. WIE KOMMT DAS?
Ja, das ist tatsächlich ein entscheidendes Element, aber vor allem geht es darum, wie man die depressiven Tendenzen überwinden kann, die wir alle hin und wieder fühlen, wenn alles sinnlos und hoffnungslos erscheint. „Time To Escape“ zum Beispiel handelt zuerst davon, dass man sich selbst nicht aus dieser Lähmung befreien kann, dass man immer wieder die Vergangenheit betrachtet und all seine Fehler sieht. Aber in der zweiten Strophe konzentriert sich der Text darauf, wie man das alles überwindet.
DIE MEISTEN SONGS BIETEN ABER DOCH KEINE SOLCHE LÖSUNG AN. „SIREN“ BEISPIELSWEISE SCHEINT MIR VON EINER FESTGEFAHRENEN BEZIEHUNG ZU ERZÄHLEN UND DIE LAGE ALS ZIEMLICH AUSWEGLOS ZU SCHILDERN.
Hm, ja, auf einige Titel trifft das sicher zu. „If Only“, „Siren“, „The Moment“, „A Thousand Lies“ und „Can’t Walk Away“ handeln von der Trauer über eine gescheiterte Beziehung und von verlorener Liebe… von Beziehungen, die nicht funktioniert haben, oder von Fällen, wo jemand die Liebe eines anderen einfach nicht erwidert. Diese Texte haben einen sehr realen Hintergrund. Mir ist klar, dass andere Menschen meine Gefühle nicht im eigentlichen Sinn verstehen werden, und das will ich auch gar nicht. Aber vielleicht hört jemand den Text und denkt: Verdammt, das ist mir doch auch gerade passiert. So ist mir das schließlich auch mit vielen Songs gegangen, die ich dann aus genau diesem Grund geliebt habe. Das möchte ich auch anderen geben können.
IST DAS AUCH FÜR DICH EINE KATHARSIS, WENN DU DIR DIESE DINGE VON DER SEELE SCHREIBST?
Absolut. Deswegen ist mir auch sehr wichtig, dass die Texte auf der Platte in der Realität verankert sind, dass sie greifbare, nachvollziehbare Gefühle und ein tatsächliches Ereignis schildern. Es geht nicht um irgendeinen Typen, der sich von seiner Freundin trennt. Es geht sehr direkt um etwas, das mir passiert ist. Das ist für mich eine Möglichkeit, aus etwas sehr Negativem doch noch etwas Positives zu machen. Wenn Text und Melodie und alles schließlich fertig sind, ist es natürlich immer noch traurig, weil der Song mich an traurige Dinge erinnert, aber gleichzeitig ist da das Hochgefühl, etwas geschaffen zu haben.
NACHDEM NIGHT BY NIGHT 2007 GEGRÜNDET WURDE, HAST ZUNÄCHST EINMAL DU SELBST GESUNGEN, ABER INZWISCHEN STEHT BEI EUCH HENRY RUNDELL AM MIKROFON – WIE KAM DAS?
Ja, auf der ersten EP bin ich noch Leadsänger, aber uns wurde schnell klar, dass ich das, was uns so vorschwebte, nicht selbst würde bringen können, weil meine Stimme das nicht trägt. Also standen wir vor der Frage, entweder unsere Ansprüche herunterzuschrauben, oder aber einen neuen Sänger zu suchen. Außerdem bin ich ohnehin eher ein reservierter Typ und fand es immer schwer, ein Publikum mitzureißen. Wir lernen dann Daniel Rossall kennen, einen tollen Sänger, der uns zunächst einmal zeigte, was alles möglich ist. Wir nahmen das ganze Album mit ihm auf, aber dann gaben wir die ersten Gigs und merkten, dass es nicht funktionierte.
IN WELCHER HINSICHT?
Na ja, er hatte das Gefühl, die Band würde seine Hoffnungen letztlich nicht erfüllen können – ihm ging es wohl nicht schnell genug. Über eine Anzeige fanden wir dann Henry Rundell, der schon viel Erfahrung in anderen Bands gesammelt hatte und mit ALICE COOPER, EXTREME und IRON MAIDEN getourt hat, obwohl er noch ganz jung ist. Ihm war klar, dass es dauern kann, bis eine Band den Durchbruch schafft, und er war bereit, mit uns dran zu arbeiten.
Es ist ja so – wir haben für das erste Album überall, in Europa, den USA, in Südamerika tolle Kritiken für die Platte bekommen, teilweise in Blogs und Webzines, aber durchaus auch in der etablierten Musikpresse. Bei vielen sind wir Platte des Jahres geworden. Hätten wir so eine Reaktion im Jahr 1987 bekommen, wären wir jetzt vermutlich auf Tour mit WHITESNAKE. Aber heutzutage haben wir eben auch immer noch andere Jobs nebenbei, die natürlich unseren Spielraum einschränken.
TRIFFT DAS AUCH AUF DEIN ENGAGEMENT BEI DEN SISTERS ZU?
Nur ganz selten mal – die SISTERS spielen ja auch nicht so viele Gigs am Stück, normalerweise ist das immer mal eine Woche oder im Sommer eine Reihe von Festivals, aber das war bisher kein Problem.
WIE FÜHLT SICH DAS AN, VON EINER EIGENEN BAND MIT KOMPLETTER KREATIVKONTROLLE IMMER WIEDER ZU EINEM ANDEREN PROJEKT ZU WECHSELN, WO GANZ KLAR ANDREW ELDRITCH DIE FÄDEN ZIEHT?
Klar, die SISTERS sind eine Institution, die jetzt seit 35 Jahren aktiv ist. Bei ihnen liegen die Zeiten lange zurück, wo sie im Kleinbus durch die Gegend gefahren sind und in jedem kleinen Kaff gespielt haben, und sie haben drei enorm erfolgreiche Alben aufgenommen. Mit den SISTERS spielen wir vor 2000 bis 6000 Leuten. Dementsprechend sind die Touren immer gut organisiert, es gibt einen Tourbus, Hotels und Gitarrentechniker, wohingegen wir bei NIGHT BY NIGHT mit dem eigenen Van fahren, bei Kumpels übernachten und alles selber machen. Aber das hat beides seine guten und schlechten Seiten. Ich meine, ich war selbst ein großer Fan der SISTERS, und bei den Gigs stehst du vor einem Publikum, das total mitgeht. Mit NIGHT BY NIGHT kann ich mein eigenes Ding machen und meinen eigenen Ausdruck finden. Bei den SISTERS kann ich das im Rahmen meiner Gitarrenarbeit auch tun, aber in Grenzen – ich kann da kein Fünf-Minuten-Solo spielen, das passt einfach nicht.
HABEN DIE ERFAHRUNGEN MIT DEN SISTERS DEINE ARBEIT BEI NIGHT BY NIGHT BEEINFLUSST?
Ja, das ist mir erst in letzter Zeit richtig klar geworden. Bei den SISTERS habe ich gelernt, dass jedes Element im Song von entscheidender Bedeutung sein muss oder unnötig ist. Das berücksichtige ich inzwischen sehr, wenn ich Songs für NIGHT BY NIGHT schreibe. Bei unseren ersten Demos haben wir einfach alles bis zum Anschlag aufgedreht. Jetzt habe ich ein anderes Gespür für Wirkung – manchmal muss Damien, unser Drummer, dann einen ganz schlichten Beat spielen, manchmal braucht man auch keinen mehrstimmigen Gesang. Manchmal ist weniger mehr. Jeder Aspekt, jede Melodie, jede Textzeile muss dem Song dienen. Ich denke, das hat mein Songwriting und auch mein Spiel entscheidend verbessert.
WEISST DU SCHON, WIE DAS ZWEITE ALBUM VON NIGHT BY NIGHT AUSFALLEN WIRD?
Na klar. Etwas heavier, aber gleichzeitig auch melodischer und mit noch mehr Harmoniegesang. Wir wollen die Grenzen in jeder Hinsicht erweitern und uns vor allem darauf konzentrieren, was wir wirklich fühlen. Es wird sicher keine Abkehr von den Dingen geben, für die uns die Fans lieben gelernt haben – sondern eher mehr soliden Hardrock mit großartigen Refrains und Melodien.
Copyright Fotos: Tallee Savage
Hinterlassen Sie einen Kommentar.
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.