Ort: Gelsenkirchen - Amphitheater
Datum: 01.07.2005
An dem Tag, an dem die Republik ihren Kanzler verlor, bekam sie einen viel schöneren Ersatz: Ein neues Gothic Festival, welches sich der Location entsprechend Amphifestival schimpft und vom Orkus präsentiert wird. Nach diversen kleineren und größeren Absagen der letzten Zeit (Zillo, Tortured Souls…) waren wir gespannt, ob und wie reibungslos die beiden Tage im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne gehen würden. Das wichtigste vorab: Der Wettergott hatte ein Einsehen mit den schwarzen Seelen und ließ die Veranstaltung zu 98 Prozent regenfrei ablaufen. Ebenso wenig war man der prallen Sonne ausgesetzt, wenngleich der Schreiber erstaunt feststellen musste, dass man auch bei bedecktem Himmel einen Sonnenbrand bekommen kann. So machten wir uns also mit einer kleinen Terrortruppe am Freitag nachmittag auf ins Abenteuer, mit Neugier und guter Laune im Gepäck. Die Staus geschickt umfahrend erreichten wir gegen 18 Uhr das weitläufige Gelände rund ums Amphitheater Gelsenkirchen und konnten uns noch problemlos auf dem ausgedehnten Hauptparkplatz breit machen. Danach folgte das leidige Schlangestehen-Spiel, ein Schicksal, das wir mit einigen anderen Besuchern teilten. An dieser Stelle hatte man wohl den Zuschaueransturm etwas unterschätzt, die Einlassprozedur hätte vielleicht ein wenig flüssiger ausfallen dürfen. Das sollte aber einer der ganz wenigen organisatorischen Missgriffe des Wochenendes sein, schließlich waren wir dann auch mittendrin und verschafften uns einen groben Überblick.
Neben einer Vielzahl an Verpflegungsständen tummelten sich auch die bekannten schwarzen Händler der Szene, darunter die Sponsoren XtraX und ein kurioser Sargbauer („Wir liefern deutschlandweit“). Bei letzterem durfte man dann natürlich auch morbide Erinnerungsfotos schießen. Das Amphitheater selbst präsentierte sich ohne Übertreibung als wunderschöne Location. Eine riesige Bühne direkt vor dem Rhein-Herne-Kanal gelegen, mit aufgespanntem Zeltdach, und drum herum im Halbkreis die steil aufsteigenden Sitzgelegenheiten, ganz im Stile der Antike. Damit war schon mal von allen Plätzen hervorragende Sicht auf das Geschehen garantiert, und man hatte jederzeit die Möglichkeit sich ein wenig zu erholen. Natürlich gab es auch genügend Raum direkt vor der Bühne für die „Steher“ und Tänzer. Mein Kollege hatte ja bereits über das Rock Hard Festival an selber Stelle nur löbliche Worte verloren, und ich kann ihn da nur bestätigen. Malerischer und atmosphärischer kann eine Gruftiveranstaltung kaum beheimatet sein. Das führte zu ein paar kuriosen Begebenheiten, da sich einige offensichtlich zahlungsunwillige Zeitgenossen mit Zelt und allem drum und dran auf der gegenüberliegenden Kanalseite breit machten und somit ihr „eigenes“ Festival genossen. Zudem passierten natürlich immer wieder Schiffe den Wasserweg, was von hinten manches mal so aussah, als ob sie direkt die Bühne kreuzen würden. Wer selber in den Genuss einer Bootsfahrt kommen wollte, hatte die Möglichkeit am Samstag an gediegenen „schwarzen Kaffeefahrten“ teilzunehmen, das Winke Winke lief jedenfalls genauso ab wie bei den cruisenden Normaloausflüglern. Also einen Platz gesucht und die erste Band begutachtet, die bereits seit ein paar Minuten musizierte.
Dabei handelte es sich um die belgische Formation THIS MORN’ OMINA, welche in Triostärke aufgelaufen war. Wenn man ganz ehrlich ist, war dies auch die einzige eher ungewöhnliche Band des ganzen Festivals, denn wenngleich ich mich auf einige der anderen 14 Acts freute, so handelt es sich bei denen doch um schwarzen Mainstream, was ich nicht als Wertung verstanden wissen will. Schade eigentlich, dass gerade der Opener ein wenig um die gebührende Aufmerksamkeit geprellt wurde, da sich zu diesem Zeitpunkt noch etliche Seelen (oder Seelenlose?) im realen Warteschlangenmodell befanden. Eine Handvoll Tanzwilliger feierte den Ritual Electro der „Beneluxen“ dennoch ab. Man muss sich das so vorstellen: In der Mitte ein Herr an den Reglern (im Stile von WESTBAM) und an den Seiten 2 Trommler, die ihre Arbeitsgeräte ein wenig im Stile von Neofolkbands bedienten. Kein Gesang, dafür umso mehr Beat, was vielleicht nicht ganz zum hellen Sonnenlicht passte, in Clubs dürfte es bei TMO richtig abgehen. Es dauerte nicht lange und der Anfang ward vollbracht.
Danach sollte mit UNHEILIG schon ein persönlicher Höhepunkt folgen, doch vorher eine weitere Überraschung: Ein Ansager betrat die Stage und kündigte eine etwas längere Pause an, um die Schlange abzuarbeiten. Und bei diesem wohlgekleideten Moderator handelte es sich um niemand geringeren als Andy Krüger, Frontbiene bei MELOTRON. Natürlich musste der Herr erst mal begrüßt werden, und scherzhaft kürten wir ihn zur männlichen Amphi-Medusa. Da seine Elektrotruppe ebenso wie einige andere Acts zum Protain-Stall gehört, der mithin zu den Organisatoren des Festivals zählt, war das Engagement gar nicht mehr so überraschend. Während wir also auf den „Grafen“ warteten, bereiteten Licky und Hennig Verlage den Soundcheck vor, als musikalische Untermalung dabei ein Werbetrailer von SPV. Und dieser Trailer sollte im Verlauf des Events noch zu einem echten Ärgernis werden, denn er wiederholte sich immer und immer wieder wie eine Plage Gottes. So wenig ich etwas gegen THE MISSION, COVENANT, MELOTRON, SKINNY PUPPY, FUNKER VOGT und die WELLE:ERDBALL habe: Wenn ich mir 30 mal dieselben Stücke anhören muss, wünsche ich mir die Folterstrafe für den Verantwortlichen:-) Es kann doch nicht sein, dass ich für ein Minimum von 15 Pausen nur EINE Endlosschleife parat habe?! Das war aber auch wirklich der einzige Nervfaktor der 2 Tage und irgendwann buchte man das unter „Kaufhaus-Musik für Gruftis“…
Jetzt aber zum UNHEILIGen Trio. Ich habe den Grafen und seine Mannen nun wirklich oft genug erblickt und wurde jedes mal aufs Prächtigste unterhalten. So war es auch an diesem späten Nachmittag, was offensichtlich einige so sahen, denn der Platz vor der Bühne füllte sich sehr ordentlich. Mit seiner Mischung aus Fannähe, Pathos und Theatralik packte der Glatzkopf jeden, der willens war, sich ein wenig seinen Träumen hinzugeben. Großartige Besonderheiten gab es bei diesem Auftritt nicht, sieht man einmal davon ab, dass Gitarrist Licky auf seinen Safarihut verzichtete und der Graf vielleicht etwas aufgeregter war als sonst. Auch die Setlist enthielt die altbekannten Hits: „Auf zum Mond“, „Sage ja“, das zärtliche „Schutzengel“, das hymnenhafte „Freiheit“, die „Maschine“ etc. Noch in diesem Jahr will man wieder ins Studio, um den Nachfolger von „Zelluloid“ zu produzieren. Nach dem Woodstage und dem Russland-Auftritt war das Amphi also ein weiteres Steinchen im Erfolgspuzzle der sympathischen Dunkelkünstler.
Da nun jeder, der es so wollte, im Inneren des Theaters angekommen war, wurden die Pausen ab sofort auf ein Minimum reduziert. Dabei verliefen die Umbauten nahezu perfekt und ohne die kleinste ersichtliche Störung. Während der jeweils vorherige Act seiner Arbeit nachging, wurde hinter der Bühne alles Notwendige für den Nachfolger aufgebaut und dann einfach nur auf die Stage geschoben. Nun war es also Zeit für ZERAPHINE, weitere große Faves meinerseits. Während die Menge vor der Bühne ungefähr gleich blieb, schien es mir so, als ob die Atmosphäre ein wenig ruhiger/ andächtiger war. Kein Wunder, musizieren die Berliner doch etwas ruhiger und gefühlvoller, ohne allerdings das rocken gänzlich zu vernachlässigen. So war natürlich wieder Herr Friedrich in edlem Gewande das Aushängeschild, der am Anfang 1, 2 ungewohnte stimmliche Schwächen offenbarte, dann aber zu seiner üblichen Form fand. Auch hier benötigt es keine große Beschreibung, es war ein typisches ZERAPHINE-Konzert, mit der üblichen Dynamik und den üblichen „Gassenhauern“ aller drei Alben. Beispiele gefällig? Die Klassiker „Sterne sehen“, „Siamesische Einsamkeit“ sowie „Unter Eis“ vom Debüt, die „englischen“ „Be my rain“/ „No Tears“ von der „Traumaworld“ aber auch „I feel your trace“ konnten allesamt bestens unterhalten. Die U2-Coverversion „New Year’s Day“ setzte schließlich noch ein Sahnehäubchen auf einen ebenfalls gelungenen Auftritt.
Die darauf folgenden GOETHES ERBEN antizipierte ich etwas zwiespältig, war ich in der Vergangenheit doch nicht gerade von ihrer Intellektuellen-Musik überwältigt worden. Oswald Henke zählt halt zu den exzentrischeren Typen der deutschen Schwarzkittelszene und nicht immer hat er richtig Lust auf Performance. Aber heute hatte er! Die große Zuschauermenge schien ihn zu beflügeln, wie ein Derwisch pflügte er über die Bühne, in diversen Outfits. Neben ihm natürlich seine Musiker, darunter hinten rechts die Keyboarderin Mindy Kumbalek, dann die bei einigen Tracks aufspielende Susanne Reinhardt an der Violine und der seit dem Woodstage neu hinzugekommene Gitarrist Tim Hofmann. Zudem handelte es sich beim zweiten Klampfer Troy um einen „Rückkehrer“, der nach 6-7 Jahre Pause nun wieder für die Erben in die Saiten greift. Im Mittelpunkt aber „Goethes Erbe“ Oswald, der eine Handpuppe namens Gertrud mitgebracht hatte, um der Vergeistigung entgegenzuwirken. Die Setlist entpuppte sich erwartungsgemäß als Best Of, mit einigen Stücken vom im Herbst erscheinenden neuen Album „Dazwischen“, die aber schon liveerprobt sind. Besonders gut gefielen mir „Glasgarten“, „Der Eissturm“ und „Nichts bleibt wie es war“, die deutschsprachige Bearbeitung des STILL SILENT FEAT. PETER SPILLES Tracks „Shockwaved“. Bei “Die Form” sorgten schließlich ca. 700 verteilte Kerzen für ein wunderschönes langsam anwachsendes Lichtermeer. Die Zuschauerreaktionen fielen gar so gut aus, dass mit „Lebend lohnt es“ noch eine Zugabe folgte.
Und wo wir gerade bei Peter Spilles waren, der gute Mann folgte natürlich nun mit seiner Formation PROJECT PITCHFORK als Headliner des ersten Tages, von Andy grazil als „Band, die eine Band ist“ angesagt. Mittlerweile war es auch dunkel geworden, so dass die hervorragende Lightshow bestens zum Tragen kommen konnte. So viele Konzerte ich auch schon gesehen habe, PP standen noch nie auf meinem Speisezettel, von daher war ich natürlich besonders neugierig auf die Truppe, die gerade ihren neuen Longplayer „Kaskade“ veröffentlicht hat. Davon präsentierte man dann auch gleich Songs wie „Fleischverstärker“ oder „The Future is now“, die noch einmal deutlich machten, dass die „harten“ alten Tage vorbei sind. Heutzutage wird gesungen und nicht mehr verzerrt gegrowlt wie ehedem. Dennoch gefielen mir die aggressiven Klassiker wie „Fire & Ice“ oder „IO“ doch noch ein Stück besser, zu dem das erste Mal an diesem Tage gepogt wurde. Auf der Bühne moshte rechts ein gut aufgelegter Gitarrist Carsten Klatte ab, der ja unlängst mit LA CASA DEL CID sein Solodebüt gab. Dazu links Dirk Scheuber an den Keys sowie zwei zusätzliche Musiker, von denen der Drummer mir u.a. schon bei DE/VISION aber auch TITO & TARANTULA begegnet war. Spilles selber hatte wieder einen „Tarnstreifen“ aufgelegt und brachte insgesamt eine sehr engagierte Vorstellung, die in 2 Zugaben mündete, von denen der „Timekiller“ noch mal alle zum kochen brachte. PROJECT PITCHFORK bleiben ein wichtiger und bedeutender Faktor der deutschen Elektrolandschaft!
Danach verließen die Zuschauer in Scharen das Amphi, obwohl noch gar nicht Schluss mit lustig war. Denn für eine Mitternachtssession der besonderen Art hatten sich die Engländer CLIENT angekündigt, die allerdings weder auf dem Poster noch dem Festivalshirt vermerkt waren. Da hätte ich mir von Herrn Krüger doch bereits vor PP einen kurzen Hinweis gewünscht, denn so mussten die beiden Mädels plus Knöpfchendreher vor fast leerem Haus auftreten. Immerhin fanden nach Beginn der Darbietung dann doch ein paar Gestalten ihren Weg zurück in die weite Runde, in der es mittlerweile schon ein wenig kalt geworden war. Kate Holmes und Sarah Blackwood ließen derweil ihren strengen Charme spielen, während sie wie immer in ihrer Uniformartigen Kleidung punkten konnten. Mit kurzen lässigen Bewegungen ließen sie die Herzen einiger Retroelektriker schneller schlagen, während sie Songperlen der Marke „In it for the Money“, „Radio“, „Rock and Roll Machine“ oder „Overdrive“ zum besten gaben. Ein schöner Abschluss dieses ersten Tages, und wer danach immer noch nicht genug hatte, konnte sich noch auf der Aftershow Party austoben. Wir aber kehrten zurück nach Ostwestfalen, um uns für den morgigen Tag die nötige Frische zu holen. Die Amphi-Premiere war bislang vollauf geglückt!
Copyright Fotos: Jörg Rambow
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