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CHARLEMAGNE PALESTINE

Ort: Düsseldorf - Salon des Amateurs

Datum: 17.09.2006

Mir war seit Wochen klar, dass dieser Tag jede Menge Stress mit sich bringen würde, doch was tut man nicht alles für ein tolles Konzert? Durch Umwege hatte ich von dem „Approximations“ Festival erfahren, einem mehrtägigen Live Event in Düsseldorf, bei dem das Traditionsinstrument Klavier auf Elektronik und Moderne prallen würde. Das alleine sollte schon Motivation genug sein, doch konnte ich mich lange nicht so recht entscheiden. Als ich dann aber auch noch erfuhr, dass am letzten Abend der quasi-legendäre CHARLEMAGNE PALESTINE für eine Soloperformance auf dem Klavier gebucht worden war, räumte dies den letzten Zweifel beiseite. Ich absolvierte also meine sonntägliche Schicht im Call Center und spurtete um Punkt sechs Richtung Bus, um auf keinen Fall den Zug zu verpassen. Erst in den weichen Sesseln der Deutschen Bahn hatte ich etwas Zeit, mich auf das zu freuen, was mich heute Nacht erwarten sollte – nicht ohne einen leicht traurigen Unterton indes.

Denn die oft heraufbeschworene historische Gerechtigkeit ist im Musikgeschäft ein eher seltener Artikel. Wo gehobelt wird, da fallen Späne und nicht jeder, der Teil einer einflussreichen Bewegung war, wird von Presse, Publikum und Portemonnaie gebührend belohnt. Und genauso verhält es sich bei CHARLEMAGNE PALESTINE. In den 60ern und 70ern gehörte er zu einer Gruppe von Komponisten, die von Hornbrille tragenden Journalisten gerne als „Minimalisten“ umschrieben wurden und die (zumindest teilweise) in der Wiederholung ein stilbildendes Element entdeckten. Palestines „Strumming“, zum Beispiel, dauerte satte 45 Minuten – und bestand dabei nur aus zwei immer wieder angeschlagenen Tönen. Während ausgebildete Orchestermusiker sich scharenweise und wie beleidigte Leberwürste weigerten, diese auf dem Papier so primitive Musik überhaupt anzurühren und das Establishment darin den Zusammenbruch der klassischen westlichen Musiktradition sahen, wurden die hypnotischen Klangflächen zu einer weit ausstrahlenden Quelle der Inspiration für spätere Generationen – wenn auch mit Verspätung. Steve Reich erhielt erst gute 30 Jahre nach seinem wegweisenden „Drumming“ mittels eines Tribut-Albums die gebührende Anerkennung und der mittlerweile weltberühmte Philip Glass musste sogar bis zu seinem 40. Geburtstag Taxi fahren. Dem jetzt in Brüssel lebenden New Yorker Charlemagne Palestine blieben breite Anerkennung und die Glitzerwelt der großen Opernsäle gleich gänzlich verwehrt.

Ich treffe mich mit einem Freund am Hauptbahnhof und wir wandern durch die angenehm warme und entspannt pulsierende Altstadt zum „Salon des Amateurs“, einem kuscheligen Schuhkarton und ehemaligen Foyer der Kunsthalle, welches nun für die unterschiedlichsten Events gebucht werden kann: DJ-Abende, bizarre Parties und eben Konzerte. Wir suchen uns einen Platz in der mittleren Sitzreihe, zwischen den tiefen schwarzen Sofas an der rechten und der von einer Menschentraube umgebenen Bar an der linken Seite. Organisator Volker Bertelmann (der unter dem Pseudonym Hauschka selbst wunderbar verträumte Musik macht), sammelt bereits freundlich plaudernd und „mit dem Klingelbeutel“ das Eintrittsgeld ein – von der oft genannten Spießermentalität dieser Stadt ist zumindest hier nichts zu spüren.
Dann tritt Charlemagne ein und selbst wenn man ihn noch nie vorher gesehen hat, wird einem sofort klar, wer der Star des heutigen Abends ist. Mit einem Panamahut auf dem Kopf, einem eleganten gelben Halstuch und in ein wehendes weiß-rosa-farbenes Hawaiihemd gekleidet, betritt er den Raum und begibt sich zum Klavier. Während er aus einem alten Koffer meterweise Stoff zieht, mit dem er sein Instrument zu schmücken beginnt, wird vom Personal ein kleines Tischchen herangetragen, auf dem zwei Flaschen Mineralwasser und eine Karaffe Cognac Platz finden. Letztere wird umgehend geöffnet und ihr Inhalt in ein edles Glas gefüllt, welches Palestine fröhlich schwenkend und mit genießerischen Schlücken leert. Unterdessen hat er auf den oberen Rand des Pianos eine Armee aus Plüschtieren beordert: Kleine Affen, lustige Elefanten und tollpatschige Bären, die nun erwartungsvoll auf den Meister blicken. Doch zunächst hält Bertelmann noch eine kurze Einleitungsrede und bittet um Ruhe. Langsam verstummen die Konversationen und wie aus dem Nichts erklingt plötzlich ein heller, hoher Ton, zugleich durchdringend und entspannend. Es ist Charlemagne, der seinen Finger mit Cognac befeuchtet hat und nun über den Rand des Glases reibt. Unglaublich, welche Intensität er mit diesem Kindertrick erzeugt. Der gesamte Raum erstarrt. Mit einer rauen, medizinmannähnlichen Stimme singt er über dem Grundton, leicht leiernd und wie aus einer Versenkung. Es wird uns schlagartig klar: Dies ist kein einfaches Konzert, dies ist ein Ritual. Als das Lied zu Ende ist, setzt er sich an den Flügel und legt seine Armbanduhr ab. Dann beginnt er zu spielen.

Ein einzelner Ton wird angeschlagen. Leise. Sehr leise. Wieder. Und wieder. Dann ein zweiter. Die beiden spielen erst gegeneinander, dann miteinander, verschmelzen, pochen in einem energievollen Rhythmus. Ein dritter kommt hinzu, formt einen monoton hämmernden Akkord. Langsam nimmt das Stück Fahrt auf, es entsteht ein Groove, ein Signal. Die Harmonien wechseln und mit jeder Veränderung wird die Trance tiefer. Inzwischen ist der Beat zu einer einzigen hyperventilierenden Atmung geworden. Charlemagnes Gesicht läuft puterrot an, kleine Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn, laufen in schmalen Rinnsälen seinen Nacken hinunter, Richtung Hemdkragen. Gelegentlich dreht er sich um, blickt mit zugekniffenen Augenschlitzen ins Publikum. Man fürchtet um seine Gesundheit und um das Klavier, das bei jedem weiteren Schlag auseinander zu brechen droht. Kleine Melodien kristallisieren sich heraus, tauchen kurz aus dem dichten tonalen Teppich heraus und zerfallen wieder. Es bilden sich Obertöne, Reflektionen aus den aneinander reibenden Wellenkämmen und alles ballt sich zu einer dichten Wand aus flirrenden Klängen zusammen. Die Hände bewegen sich nun Richtung Bassnoten und der Soundwall wird immer drückender und fesselnder. Man hört nur noch entfernt die Themen vom Anfang, über allem liegt ein metallisches Hämmern und Dröhnen, wie von einer rostigen industriellen Schiffswerft. Dann geht es wieder hinauf, immer höher und höher, bis die Tasten kaum noch hörbar sind. Noch einmal erklingen die Noten vom Anfang, zerbrechlich nun und unendlich berührend. Palestine hält die Hände wie entrückt über dem Tastenbrett, denkt nach, setzt noch einmal an, hält dann inne und entschließt sich zu einem Schluck Cognac. Der Auftritt ist vorbei.

Ohrenbetäubender Applaus braust auf, in dem Charlemagne sichtlich zufrieden badet, ehe er zum Beweis der körperlichen Tätigkeit sein nass geschwitztes Hemd in die Meute hält. Mit nacktem Oberkörper bleibt er noch eine gute Stunde im Saal, plaudert mit jedem, der möchte, leert zusammen mit dem langsam aus dem Salon fließenden Publikum die Reste der Karaffe. Gegen zwölf Uhr rollt er, seine Frau und den Requisitenkoffer an der Hand, seinen Trolley in den kühlenden Regenschauer hinaus, dabei frohgemut „Byyyeeee!“ in die Menge rufend. Auch wir verabschieden uns Richtung zu Hause, denn trotz des Adrenalins macht sich nun doch die Müdigkeit bemerkbar. Schlaftrunken und erschöpft stolpern wir über das Kopfsteinpflaster im Licht des Mondes. Doch diese Art von Stress nimmt man jederzeit gerne auf sich.

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