Ort: Berlin - FritzClub
Datum: 19.05.2005
Auch wenn die Sternstunde der FEHLFARBEN deutlich in den 80ern gelegen hat: auch heute noch kennt man mindestens zwei Lieder der „Urväter des Deutschpunk“ – unvergessen die hohen, abgehackten Gitarrenriffs von „Ein Jahr (es geht voran)“. Und in mancher Disco hört man immer noch die vielsagenden Zeilen von „Paul ist tot“: „Was ich haben will, das krieg´ ich nicht, und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.“ Die Möglichkeit, das Septett einmal live zu erleben, war da schon etwas Besonderes, und so fand ich mich bei schönstem Sommerwetter vor dem Postbahnhof am Ostbahnhof ein, wo der FritzClub mittlerweile seine Zelte aufgeschlagen hat. Nach einigen Minuten in der warmen Abendsonne ging es dann auch hinein auf das weitläufige Gelände und erst einmal in den Hof, wo man in Strandkörben ein Frischgezapftes schlürfen konnte, bevor man sich die eigentliche Konzertlokalität zu Gemüte führte.
Den Auftakt bildete um 21 Uhr das rheinische Quartett DORFDISKO – junge knackige Bengels in den Zwanzigern ihres Lebens. Trotz Majordeal und enormem Aufstiegspotential noch etwas schüchtern, spielten sie deutschsprachigen Studenten-Gitarrenpop à la ERDMÖBEL oder TOMTE, der zwar nicht viele Gäste von der Bar weglockte, aber doch eigentlich sehr anständig klang. Grade der neuen Single „Unterwegs“ dürfte noch einige Aufmerksamkeit zuteil werden. Sehr niedlich auch, dass die Akustikgitarre von Sänger Daniel mit nachtleuchtenden Sternen beklebt war. Überhaupt machten die Jungs einen sehr sympathischen Eindruck, wenn auch die musikalische Richtung nicht 100%ig in den Abend passte, und die reichliche halbe Stunde Spielzeit war schnell vorbei.
Zumindest namenstechnisch sollte weiterhin „Disko“ auf dem Plan stehen, keine Viertelstunde später legte die ROCKFORMATION DISKOKUGEL los – und der Lichtjockey warf tatsächlich die Diskokugel an! Retropop mit Punkeinflüssen – wie frisch aus den 80ern, da sah man schon mehr vom Publikum! Gleich mit „Das waren Jugendliche“ ging die Post ab. Magnus Schmerfeld am guten alten Fender Rhodes Piano und anderem Synthesizermaterial teilte sich den Gesang mit Mathias Hill am Bass, der auch als großer Bruder von Oliver Pocher durchgehen würde. Das Schlagzeug verweilte ausnahmsweise einmal nicht im Hintergrund, alle Instrumente waren auf einer Linie quer über die Bühne ausgerichtet. Und textlich wurde Ironie in großen Dosen verteilt: Hommagen (?) an RAF-Terrorist Henning Beer, Sänger Gunter Gabriel und das ehemalige DDR-Blatt „Neues Deutschland“ bildeten einen Gutteil der Setlist und auch dementsprechend humorvoll-bissig angesagt. Dass es diese Gruppe wirklich erst seit 1997 geben sollte… und dass ein Kuhkaff wie Schlüchtern eine solch quirligen Vierer hervorbringen konnte – erstaunlich! Das gab definitiv einiges an Spaß und gutgelaunt kündigte man schon an, dass die FEHLFARBEN sich an diesem Tag aus Konformitätsgründen in DISKOFARBEN umbenannt hätten. Was noch zu beweisen war. Der Ausflug von Mathias in den Zuschauerraum zu Ende des Sets bewies jedenfalls, dass man den Publikumskontakt nicht scheute. Eine knappe Stunde verblüffend originelle Darbietung, die wirklich Lust auf mehr und vor allem die FEHLFARBEN machte.
Die Jungs von der RFDK hatten nicht gelogen: als die glorreichen Sieben nach der Umbaupause und einer kleinen Laudatio von wem auch immer vor das Publikum traten, stellte der doch etwas gealterte Sänger Peter Hein sich und die Band tatsächlich als die DISKOFARBEN vor. Überhaupt zeigte er sich von den Vorbands ziemlich beeindruckt und war – wie das Publikum – allerbester Stimmung. Per Beamer wurden dann auch noch ein paar urbane Aufnahmen in den Hintergrund gezaubert, welche die pessimistische Antihaltung der meisten Lieder noch unterstrichen. Nichtsdestotrotz war die Spielfreude deutlich anzumerken, während im Zuschauerraum öfter mal grüppchenweise gepogt und gesprungen wurde. Dass Songs wie „Sprachlos“, „Die Internationale“ oder auch „Apokalypse“ so begeistert aufgenommen wurden, freute die Band sichtlich, jeder legte sich hundertprozentig ins Zeug, die „neue“ Schlagzeugerin Saskia trommelte teilweise, als ginge es um ihr Leben. Bald schien es zu warm auf der Bühne zu werden, Peter legte seine zerrissene Jeansjacke ab und bot Ausblick auf ein leider grauenvoll gemustertes Hemd. Die Darbietung ließ allerdings nichts zu wünschen übrig. Ob Zornesausbruch, flehendes Bitten oder auch auf Knien singend: Entertainment par excellence.
Obwohl mit dem obligatorischen „Paul ist tot“ einer der größten Klassiker der Band aus der Mottenkiste geholt wurde, beschränkte man sich nicht darauf, nur uraltes Material aus NDW-Zeiten zu bringen. Schließlich ging auch die Geschichte der FEHL… Entschuldigung: DISKOFARBEN nach den 80ern weiter. Aus „Knietief im Dispo“ und der etwas betagteren „Die Platte des himmlischen Friedens“ wurde der Großteil der Songs für die Setlist rekrutiert und auf den Überflieger „Ein Jahr (es geht voran)“ schien man ganz bewusst zu verzichten. Es gab ja auch ohne dem genug zu spielen, so dass das reguläre Set durchaus seine 90 Minuten umfasste und mit „Chirurgie 2010“ endete – ein Titel, der auch als T-Shirt Spruch seinen Reiz hatte, wie Keyboarder Frank zeigte. Band wie auch Publikum wirkten schon etwas ausgepowert, aber ohne Zugabe ging natürlich überhaupt nichts. Also gab es als Schmankerl noch mehr: den Titelsong der neuen EP „Club der schönen Mütter“, „Geh du ran du ran“ und „Einsam“. Es wurde spät und später, es ging auf ein Uhr zu aber die Vorstellung war immer noch nicht vorbei, ein zweiter Zugabenblock musste her. Nach „Sieh nie nach vorn“ und „Vor Jahren“ war dann aber endgültig Schluss und man strebte den letzten Bahnen entgegen, der Ostbahnhof lag ja quasi vor der Tür.
Der Rückweg nach Hause gestaltete sich zwar so langwierig wie schwierig, das parallel in Berlin stattfindende Turnfest verkomplizierte die nächtliche ÖPNV-Situation deutlich, aber nach weiteren ca. 1,5 Stunden konnte ich mit den Worten einer „Bierbekanntschaft“ dann dankbar und erschöpft resümieren: Paul ist tot – es lebe Paul!
Setlist DORFDISKO
Bababa
Diskokugelwelt
Jaqueline
Helden
Unterwegs
Wunderbar
Schreien wir
Funktioniert
Erinnerjung
Setlist ROCKFORMATION DISKOKUGEL
Das waren Jugendliche
Pete & Modem
Mein Nachbar sah so aus wie das Fahndungsfoto von Henning Beer
Gunter
Je suis un artiste
Requiem
Neues Deutschland
Mehr Soul (als 100.000 Motown-Platten)
Gottes Freundin
No one likes us (but we don’t care)
Die Wahrheit
Beschwer dich doch
Setlist FEHLFARBEN
Sprachlos
Grauschleier
Das sind Geschichten
Zarte Zeilen
Schnöselmaschine
Sonntag morgen
Die Internationale
Gott sei Dank nicht in England
Apokalypse (Ernstfall)
Rhein in Flammen
Geldwäscherei
Paul ist tot
Schlaflos nachts
Nichts erreicht meine Welt
Die wilde 13
Chirurgie 2010
Club der Schönen Mütter
Geh du ran du ran
Einsam
Sieh nie nach vorn
Vor Jahren
Copyright Fotos: Antje Wagler
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