Ort: Gütersloh - Weberei
Datum: 25.03.2006
Der 25.3.2006 wird in die Annalen der Stadt Gütersloh eingehen! Nein, ich bin nicht größenwahnsinnig geworden, denn ich meine nicht das (erste) „Festival der Subkulturellen Töne“, sondern die Begebenheiten, die sich rundherum zutrugen, und die uns in der Planungsphase doch das ein oder andere Mal Schweißperlen auf die Stirn zauberten. Aber von vorne: Nach dem gelungenen ersten Terrorverlag-Konzertabend im Bielefelder Triebwerk (mit UNHEILIG, THE VISION BLEAK & LEICHENWETTER) war es an der Zeit, etwas Neues auf die Beine zu stellen, dieses Mal sollte es ein reines Elektronik-Festival werden. Nach Abschluss der Planung hatten wir immerhin 6 Formationen auf dem Tableau, die uns allesamt schon früher begeistern konnten, und die sich auch sofort willig zeigten, für uns auf die Bühnenbretter zu steigen. Als Veranstaltungsort wählten wir die einheimische Weberei, um endlich mal die lokale Electroszene aus dem Dornröschenschlaf zu holen. So weit so gut. Dummerweise entschloss sich die braune „Kameradschaft Gütersloh“ dazu, ausgerechnet an diesem März-Samstag eine Demonstration anzumelden, das Ergebnis war eine Hysterie, wie sie die Stadt seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hat. Nicht weniger als 9 Gegendemonstrationen wurden angemeldet, 1000 Polizisten sollten Dienst schieben (der größte Polizeieinsatz aller Zeiten in GT!), und ausgerechnet die Weberei war das Ziel der Fascho-Schlagzeile „Gegen linke Jugendzentren“. Das konnte ja heiter werden… Irgendwie war uns schon klar, dass wir durch diese gesammelten Aktionen Zuschauer verlieren würden, aber da man vor Extremisten nicht zurückweichen sollte, hielten wir unbeirrt an der Planung fest. Die Veranstaltung sollte uns recht geben…
So war es dann schließlich soweit, und wir machten uns gegen 14 Uhr am besagten Tag auf zum Veranstaltungsort, derweil es in der Stadt weit weniger hoch herging, als man vielleicht befürchtet hatte. Natürlich waren einige Strassen abgesperrt, und natürlich war allerlei Volk unterwegs, aber es kam zu keinen nennenswerten Vorkommnissen, und die 150 „Rechten“ konnten die Stadtfesten nicht erschüttern. Vielmehr solidarisierten sich die Gütersloher auf breiter Fläche, irgendwie ja auch ihr Verdienst. Wir aber bekamen von all dem nur relativ wenig mit, sieht man von den Einsatzwagen auf dem Webe-Parkplatz ab, und den Vorbereitungen zum abendlichen Antifa-Ska-Konzert im Bauteil 5 direkt gegenüber. Bühnenaufbau, Technik und Soundcheck liefen so gut wie problemlos ab, was bei immerhin 6 Bands, die nach und nach eintrudelten, logistisch gar nicht so einfach war. Lediglich mit der Zeit haperte es gegen Ende etwas, der Beamer musste noch aufgebaut werden, und das SUNEATERS-Duo stand vor seiner Live-Feuerprobe, da achtete man schon mal etwas genauer auf die Einstellungen. Derweil hatte sich eine kleine Horde meist Schwarzgewandeter vor dem Eingang eingefunden, die Einlassverschiebung von gut 40 Minuten wurde zum Glück ohne Murren und Knurren aufgenommen. Gegen 19 10 Uhr war es dann soweit, die Türen öffneten sich, eine doch recht annehmbare Schar von Elektronikern strömte hinein, und alle durften sich gleich zu Beginn über den Gratissampler freuen, den ihnen fleißige Terrorverleger in die Hand drückten. Teilweise hatten die Damen und Herren eine weite Anreise in Kauf genommen: Da wäre ein belgisches Kamerateam zu nennen, welches an einer Doku über deutschen Minimal Elektro arbeitet, aber auch Kameraden aus Jena, Hamburg und Baden-Württemberg, die teilweise nur für einen der 6 Acts im Speziellen angereist waren. Knapp 150 Anwesende gaben dem Festival einen angemessenen Rahmen, bei einer etwaigen Neuauflage dürfen es aber gerne noch mehr sein! Die Wartezeit bis zum Opener konnte man sich wunderbar am liebevoll hergerichteten Merchstand vertreiben, wo es Labelangebote von Kernkrach, Einzeleinheit (Mitveranstalter) und den WERMUT-Vehikeln TUT/ RUR zu besichtigen gab, aber auch Terrorverlag Shirts und Bücher. Um 19 30, also mit nur einer halben Stunde Verspätung, ging es dann auch endlich los, der Startschuss für einen sehr langen Abend erfolgte…
Die „Eröffnungsehre“ kam einer Kombination aus Münster und Bonn zuteil. Tobias Fischer (FEU FOLLET/ NAARMANN UND NEITELER, Stammlesern sicher auch unter seinem Kürzel „tocafi“ bekannt) sowie der etwas weiter südlich angesiedelte Mirko Uhlig (AALFANG MIT PFERDEKOPF) verabreichen unter dem Projektnamen SUNEATERS sphärische Klänge, die man grob in die Ecke KLAUS SCHULZE/ TANGERINE DREAM stecken kann. Pünktlich zum Festival konnten sie ihre Debüt-VÖ „Cosmic Insight, Baby“ an den Start bringen, auf der 4 überlange Tracks enthalten sind. Auf der Bühne sah das dann so aus, dass Herr Fischer die Tasten bediente, während Mirko ein ums andere Mal in die Gitarrensaiten griff. 30 Minuten lang pulsierende Klanglandschaften mit gelegentlichen Eruptionen, was sicher eher zum Träumen denn zum Tanzen einlud. Wenn man bedenkt, dass sich die Beiden das allererste Mal live präsentierten und die Zuschauer erst mal „warm“ werden mussten, ein beachtlicher Auftritt, dem besonders die Musikerkollegen nachher Respekt zollten.
Danach sollte es deutlich songorientierter mit den Bielefeldern PUNK SOUL LOVING BILL weitergehen. Das Quartett war mir als Support von SPILLSBURY vor geraumer Zeit positiv aufgefallen, und dieser Eindruck verfestigte sich nach der neuerlichen Darbietung. Von nun an sollte jeder Act eine Spielzeit von gut 45 Minuten bekommen, mit Ausnahme des Headliners. Ihre Spielzeit füllten Matthias, Sacha, Daniel und die eigenwillig anziehende Sängerin Jana mit ungefähr derselben Setlist wie „damals“ im Kamp und natürlich wieder ihren selbsterstellten Videoprojektionen. Leider kamen diese heute nicht so sehr zur Geltung, da aufgrund der in diesem Falle zu hellen Bühnenbeleuchtung viele Details auf der Leinwand verloren gingen. Ansonsten waren Sound und Lichteffekte das gesamte Festival über nahezu perfekt, ein Dank von allen Beteiligten geht an dieser Stelle an die Technik Crew. Zurück zu PSLB: Wieder in ihrem typisch weißen Bühnen Outfit präsentierte man schräge Minimal Electro Perlen wie „Robert“, „Industrie“ oder das geniale „Rallyeweltmeister“, allesamt auf ihrem aktuellen Output (ebenfalls „Industrie“ betitelt) zu finden. Aber auch älteres Material wie „Im Wald gibt es Bären“, „Berlin“ oder „Ich treffe den Ball nicht“ wurden zum Besten gegeben, die Performance endete im Dunkeln mit „Eine Nacht“, bei welcher sich Matthias und Jana Aug in Aug gegenüber standen. Die Zuschauer, die sich Ostwestfalen-typisch nicht ganz an die Bühne herantrauten, waren mittlerweile richtig aufgetaut und quittierten die Leistung mit sehr ordentlichem Applaus, so langsam nahmen die subkulturellen Töne Fahrt auf.
Fast erwartungsgemäß brach das Eis dann endgültig bei dem Hamburger Trio SONNENBRANDT, der poppigsten Electro Inkarnation des Abends, welche spätestens seit den beiden Warendorfer Kernkrach-Festivals in Szenekreisen bekannt ist. Das Ehepaar Frau Sonne (Gesang)/ Herr Brandt (Gitarre/ Gesang/ Keys) sowie der umtriebige Kaptain Korg an seinen gleichnamigen analogen Synthies begeisterte die Anwesenden mit tanzbarem NDW Electro und charmantem Gesang. Da dauerte es nicht lange, bis die ersten Tanzbären im Publikum gesichtet wurden, die auch keinerlei Anstoß daran nahmen, dass man bei der neuen französischen Coverversionen „Amoureux Solitaires“ 2 Anläufe brauchte, bis es richtig klappte. Leider fehlte ausgerechnet mein Lieblingssong, das Quasi Instrumental „Shmoockhalftslumbpa“, dafür aber wurden mit „Lüdenscheid“ oder der Bandhymne „Urlaubsgruss mit Sonnenbrandt“ andere Knaller der gleichnamigen Debüt EP präsentiert. Aktuell werkelt man am ersten Longplayer, der für Mai angekündigt ist und wieder bei Alexander Pohles NLW-Label erscheinen soll. Über 70 Prozent der Songs sollen schon fertiggestellt sein, lassen wir uns also überraschen. Ein wenig überrascht war ich auch, als nach der Darbietung fast frenetisch eine Zugabe gefordert wurde. Die SONNENBRANDTs bedankten sich sichtlich begeistert und konnten mit dem kühlen „Radio“ noch eins draufsetzen.
„Kühl“ ist auch der richtige Begriff, um die nächste Hamburger Formation zu charakterisieren. WERMUT, das sind Laszlo und Sofia (bzw. J. und A.), haben auf ihren vielen Veröffentlichungen eine Brücke vom Neofolk hin zur Avantgarde geschlagen, insofern war ich gespannt, was man heute der Meute zum Fraß vorwerfen wollte. Als 2te Formation setzte man den Beamer ein, dieses Mal gewinnbringend, indem man ansonsten das Licht auf ein Minimum zurückfuhr. So konnten die selbstgedrehten Videos (siehe „Ich wollte… ich könnte“/ „Life is a journey… …death a horizon“) einen wunderbaren Kontrast zum melancholischen Minimalismus der Songs abgeben. Im Vergleich zum ersten Kernkrach-Festival hat man sich enorm weiterentwickelt, zwar fehlt nunmehr das Saxophon, aber die Bühnenpräsenz und das Songmaterial machen dieses vermeintliche Manko mehr als wett. Mit den aufgehängten Gigabrother Banderolen machte das Ganze einen sakralen Eindruck, und die Künstler verstärkten diesen dann noch durch ihre leidenschaftliche Hingabe. Leider fehlte auch hier mein Lieblingsstück – „Thetis’ Wrath“ vom aktuellen Langspieler „Anna“ – aber „immerhin“ wurde „Anna“ selbst feilgeboten. Dazu kam gänzlich neues Liedgut ebenso wie Material der EP „Hoffnung“ zum Zuge („Lucia’s Song“ – ein MARLENE DIETRICH-Cover, dazu der Titeltrack). Insbesondere „Deutschland Jahr Null“, wohl angelehnt an den Rossellini-Film, konnte bei mir nachhaltig Eindruck erwecken. Die Zuschauer tanzten natürlich nicht so ausgelassen wie bei den direkten Vorgängern – wenngleich das bei einigen Titeln durchaus exerziert wurde –, dafür ließen sich viele auf die eindringliche Reise in die morbid-melancholische Tonwelt WERMUTs ein, die meist von Laszlo aber hin und wieder auch von der sinnlich-spröden Sofia intoniert wird. Lediglich die Lautstärke erschien einigen Hörern als zu niedrig, das war technisch aber wohl nicht anders machbar. Auch hier wurde am Ende eine Zugabe gefordert, die mit dem fast aggressiv zu nennenden „On The Telephone“ im EBM-Edit selbstredend eingelöst wurde. Laut WERMUT die bisher besten Zuschauerreaktionen, die sie jemals bei einer Darbietung erhielten!
Mittlerweile war es spät geworden, so dass die Dortmunder ECHO WEST erst nach Mitternacht ihren Dienst antreten konnten. Gerüchte, das habe mit dem exzessiven Nudelkonsum des Fronters Dirk zu tun gehabt, müssen wir hier aufs Schärfste zurückweisen! Waren WERMUT einigen Anwesenden noch zu leise, drehte das Duo nunmehr richtig auf, was in Verbindung mit dem militaristischen Wave Angst Pop zu fetten Schlägen in die Magengrube führte. Leider lichteten sich die Reihen nun etwas, was ich persönlich schade fand, denn die Performance hätte jede Aufmerksamkeit verdient gehabt. Aber die Uhrzeit und der aggressive Stil führten wohl dazu, dass sich manch einer vor dem Headliner eine Auszeit nahm. Dennoch führten die Verbliebenen einige nette Tanzschritte auf, so dass auch EW sich im nachhinein sehr zufrieden zeigten. Keyboarder Adrian mit der außergewöhnlichen Frisur legte die Basis für den kalten, beschwörenden Gesang des wieder sehr eindringlich agierenden Fronters. Auf die ganz noisigen Stücke hatte man in Anbetracht des Festival-Umfelds verzichtet, dennoch handelte es sich um die „härteste“ Darbietung des Abends. Neben brandneuem Material präsentierte man „Time of Brokened Ties“ sowie „Human Faith“ vom „Echoes of the West“-Werk, aber auch 3 Tracks, die unter dem Projektbanner SILENT SIGNALS erschienen sind. Manch einer fragte sich wohl, wofür die Trommel gedacht war, die bisher ein wenig verschämt auf der Bühne ihr Dasein gefristet hatte. Die zurecht geforderte Zugabe bot des Rätsels Lösung. Als exklusive Weltpremiere zelebrierten Adrian an der Trommel, Dirk (Gesang) sowie als Gäste Laszlo (Gitarre) und Sofia (Elektronik) ein Cover des DEATH IN JUNE-Klassikers „But what ends when the Symbols shatter“. Sehr stimmungsvoll und vor allem perfekt in Anbetracht der Tatsache, dass der Song nie vorher geprobt worden war!
Kurze Umbaupause, und der finale Akt konnte beginnen. THE RORSCHACH GARDEN aus Bielefeld hatten sich schon beim Soundcheck am Nachmittag als wahre Profis gezeigt, jetzt zeigten sie ihren Anhängern ihre Livekunst. Da viele eigens für das Trio um den charismatischen Philipp Muench (SYNAPSCAPE, RASPUTIN) angereist waren, füllte sich die Weberei jetzt wieder zusehends, es war gegen kurz nach 1 Uhr, und die letzten Kräfte wurden mobilisiert. Während die beiden Damen Babsi und Natascha ohne große Sperenzchen ihre Geräte bedienten, gab es natürlich Lieder der beiden Alben „The Rorschach Garden“ und „Our Japanese Friends“ auf die Ohren, mit „Modern“ und „State Protection“ dieses Mal sogar 2 meiner persönlichen Lieblinge. Man merkte schon, dass das Auditorium nach so vielen Stunden etwas ausgelaugt war, aber alle gaben tanzenderweise noch mal ihr Bestes zum eingängigen Retrosound der Ostwestfalen. Mit viel Beifall wurden die „Schachspieler“ dann nach gut einer Stunde Spielzeit verabschiedet.
So ging dann gegen 2 Uhr (bzw. sogar 3 Uhr wegen der Sommerzeit!) ein launiges Event zu Ende, welches glaube ich so ziemlich niemandem negativ in Erinnerung bleiben dürfte. Selbst wenn der eine oder andere nicht bei jeder beteiligten Band in Begeisterung ausgebrochen sein mag, dürfte doch für jeden sehr viel Interessantes dabei gewesen sein. Eine annähernd perfekte Organisation, friedliche Atmosphäre, keine Störungen von „außen“ sowie menschlich wie musikalisch einwandfrei auftretende Künstler haben diesen Abend zumindest für uns zu etwas sehr Erinnerungswürdigem werden lassen. Ich hoffe, alle anderen sehen das genauso. Dass aufgrund der fortgeschrittenen Zeit der durchaus tatwillige DJ keinen Dienst mehr verrichten musste, spielte dann auch keine Rolle mehr. Wir haben den Electro nach Gütersloh gebracht, und es besteht mehr als Interesse, das im nächsten Jahr wieder zu tun…
Setlist SUNEATERS
Embryonic Pancake Empire (Live Version)
“Mike-Oldfield Track”
Wiitonks-Dance
„William Basinski-Tribut“
Branco-Oyster (Finale)
Setlist PUNK SOUL LOVING BILL
Fortschritt und Krise
Auf die Straßen
Rallyeweltmeister
Jawoll!
Ich treffe den Ball nicht
Sommer
Im Wald gibt es Bären 2.0
Robert
Sitzen
Zukunft
Industrie
Berlin
Eine Nacht
Setlist SONNENBRANDT
Urlaubsgruss mit Sonnenbrand(t)
Herz aus Geld
Amoureux Solitaires
Der lustige Konsument
Diskolied
Komm, wir gehen nach Hollywood
Entweder oder Entweder
Was tun, Fisch
Ein schöner Tag zum Mäusemelken (Instr.)
Lüdenscheid
Radio
Setlist WERMUT
Intro
Nicole
Sombres de Sang
Combat 6
Anna
Vague à l’âme
Hoffnung
Stains
Lucia’s Song
Deutschland Jahr Null
The Wild Hunt
Media in vita in morte
Outro
On The Telephone (EBM Edit)
Setlist ECHO WEST
Calling
Exit Out (SILENT SIGNALS)
In Deinen Augen
Prostitutes
So Kalt
Menschen Der Stadt
Time Of Brokened Ties
You See, I See Red
Destructive Celebration (SILENT SIGNALS)
Human Faith
Waiting For Reaction (SILENT SIGNALS)
But what ends when the Symbols shatter
Setlist THE RORSCHACH GARDEN
isolation (unreleased)
le jour dernière
state protection
modern
excuses
catch your fall (unreleased)
the suitcase
private games
society
robot song
25 years
holiday site (unreleased)
searching for perfection
surgeon song
far away from paradise
fish and honey
Copyright Fotos: Jörg Rambow (außer auf dem Bild vermerkt: Torsten Hellge)
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