Ort: Warendorf - HOT
Datum: 09.10.2004
Eine Fahrt ins musikalische Ungewisse – Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Als ich im Internet das erste Mal von einem Event namens Kernkrach Festival gehört hatte, noch dazu in der kleinen Kreisstadt Warendorf, rieb ich mir ungeniert die Augen. In diesem 30.000 Einwohner-Kaff im Herzen Westfalens war doch konzertmässig noch nie etwas Spannendes passiert. Und jetzt sollten gleich 4 Elektro-Acts plus Special Guest im örtlichen Haus der offenen Tür (kurz „HOT“) auftreten, zum läppischen Preis von 5 Euro. Weder vom Label Kernkrach noch von den synthetischen Musikanten hatte ich vorher je gehört, was natürlich sofort meine Internetspürnase auf den Plan brachte. Ergebnis: Im großen und ganzen kann man die beteiligten Bands allesamt in die Minimal/ Retro-Elektroschublade packen, mit kleinen aber feinen Unterschieden. Mit ein paar MP3 Proben im Hinterkopf erreichten wir in Triostärke das Jugendzentrum, wo schon munter drauflos geprobt wurde. Erste Überraschung: Der Eintritt war deutlich billiger geworden! Nur 4,99 forderte die freundliche Dame nebst Kind an der Kasse, ein Glück, dass die 1-Cent-Münzen noch nicht abgeschafft worden waren. Im Laden selbst, der auch über eine ausreichende Theke verfügt (Bier 1 Euro, Markenbier wohlgemerkt!), hielten sich zu diesem Zeitpunkt etwa 50 Leute auf, unter ihnen Veranstalter Jörg vom Kernkrach-Label. Diese Künstlervereinigung hat es sich zum Lebensinhalt gemacht, analoge/ alte 80er Klänge den Konsumenten auf Vinyl wieder zugänglich zu machen. Das Festival war nur die Erfüllung einer Art Lebenstraum, was Jörg auch den ganzen Abend über demonstrierte, der mit ganzem Herzen bei der Sache war.
Als Opener fungierten WERMUT aus Hamburg, die aber eigentlich Weltbürger sind, mit ungarischen/ französischen und deutschen Wurzeln. Das Trio bestehend aus Laszlo P.S., Sofia E.R. and Formalhaut B. kann bereits auf eine Veröffentlichung beim renommierten italienischen Label Old Europa Café zurückblicken, eine 10inch mit dem schönen Namen „Les cinq-à-sept post-néoistes“. Bei der Erstellung halfen so illustre Namen wie HIS DIVINE GRACE (von denen praktisch niemand weiß, wer sich hinter diesem Namen verbirgt), Juergen Weber (NOVY SVET) oder LBDLSS. Allerdings wurde von dieser Scheibe nichts gespielt, denn bei den 10 Tracks handelt es sich um unelektronischen Neofolk. Aktuell erschienen ist eine Split mit ROD DROÏD auf eben jenem veranstaltenden Label Kernkrach. Nebenbei betreibt man auch eine Internetseite mit dem Namen Gigabrother, die über viele Jahre freie MP3’s zum Download bereitgestellt hat, nun aber vom Provider gezwungen wurde, die meisten Stücke vom Netz zu nehmen. Als Ausgleich dazu bietet man jetzt CDRs (aktuell 20) in DVD-Verpackungen an, welche auch in Warendorf erhältlich waren, darunter z.B. eigene Bearbeitungen von DEATH IN JUNE oder DER BLUTHARSCH in der C64-Version. Auf der Bühne präsentiert man sich zu dritt in schwarzen Anzügen/ Krawatten, mit einem Saxophonisten, der eher sporadisch in Erscheinung trat und sonst lasziv zur Zigarette griff, und den beiden Sängern/ Keyboardern Laszlo sowie der bezaubernden Sofia. Letztere hat übrigens noch ein Nebenprojekt namens KOSTNICE laufen, wo sie unheimliche Totengesänge zum besten gibt. Hier saß sie hinten am Mac, nur um hin und wieder Sprecheinlagen zu bieten, so trug sie z.B. etwas Lateinisches aus der Bibel vor. Laszlo sang mit eher weicher Stimme und in verschiedenen Sprachen, so z.B. das TRISOMIE 21-Cover „J’avance Auprès De Toi (Moving By You)“, welches kürzlich für einen Sampler eingespielt wurde. Bei einem Song wälzte der Frontmann sich auch völlig entrückt auf der Bühne, während er englische Parolen von sich gab. Eine Kreuzung aus Neofolk und Minimalelektro trifft es wohl am besten, wobei die Zuschauer zum Teil sicher überfordert mit dem komplexen Sound waren. Am Ende des Sets enterte Veranstalter Jörg die Bühne, nur um die Anwesenden nach einem Zugabenwunsch abzuklopfen, dieses Schauspiel wiederholte sich den ganzen Abend über. So wurde ein Track ein zweites Mal performt. Ein ungewöhnlicher Auftritt einer beobachtenswerten Kapelle, die an diesem Abend ihr ALLERERSTES Live-Konzert gab!
SOLITUDE FX aus Würzburg waren als Nächstes an der Reihe. Das Duo Marc Patrick Schaffer und Raphael Orpheo Weidelt-Baur wurde von einer weiblichen Sängerin unterstützt und allesamt trat man wieder in uniformierter grauer Kleidung mit Krawatte auf (DER Trend des Abends!). Man besitzt bereits ein ordentliches Reservoir an Stücken, die es als CDR zu erwerben gibt und von denen man auch einige in voller Länge von SFX’ Internetseite herunterladen kann. Wer dies tut, wird feststellen, dass es sich um eine Art Cold Wave-Truppe handelt, mit deutlichen Anleihen bei JOY DIVISION, nicht zuletzt wegen dem düster-monotenen Gesang, der live sehr gut rüber kam. Die gute Frau am Mikro links wirkte zwar etwas schüchtern, unterstützte aber dafür ihre Männer stimmlich in manchen Refrains und sorgte zusätzlich für eine nette Optik. Mangels Kenntnisse kann ich hier keine Liedernamen wiedergeben, aber die ausgefeilten, teils auch melancholischen Songs hinterließen positive Spuren bei mir. Eher Musik zum Fühlen denn zum Tanzen.
Dann war es Halbzeit und der Special Guest sollte seinen großen Auftritt haben. Nachdem es leider weder Frank Fenstermacher noch der Pyrolator (beide Ex-DER PLAN) zur Show schafften, machten sich die Veranstalter selbst zum Star. Will sagen: Vorhang auf (im wahrsten Sinne des Wortes, denn vor der Bühne war ein rotes Exemplar angebracht) und Spots auf SÜTTERLIN aus Bielefeld, deren Sänger selbst zum Veranstalter-Tross gehört und die bei Kernkrach eine Schallplatte namens „Bandscheibe“ platziert haben. Die Aufnahmen sollen allesamt noch aus dem Jahre 1982 (Dachboden in Lippstadt) stammen und erinnerten stark an die NDW-Frühphase, mit geschickt eingesetzten Lyrik-Hommagen. So enthält das zentrale Stück „Kernkrach“, welches als zweite Zugabe noch mal gespielt wurde, Textpassagen aus Klassikern von den FEHLFARBEN oder DER PLAN. Auf der Bühne tanzte ein mittel alter Herr in grünem Montage-Overall, dazu bediente eine Frau in gleichem Outfit die Regler und hauchte auch mal Worte wie „Glück“ in ihr Mikro. Ein sehr spaßiger Auftritt und noch dazu ein Heimspiel, da war der Applaus natürlich groß, auch von den Mitgliedern der anderen Bands. Am Ende des regulären Sets kam Jörg mit 70er Pornosonnenbrille plus Fernseher auf dem Kopf (DER PLAN lässt wieder grüßen!) und heizte weiter die Stimmung an. Zu diesem Zeitpunkt war es schon arg spät, und wenn man etwas kritisieren möchte, sind es sicher elendlangen Proben zwischen den Gigs, hätte man das nicht auf den Nachmittag legen können? Der billige Bierpreis hielt aber viele davon ab, über solche Kleinigkeiten zu sinnieren.
Weiter geht’s: Artist Nummer 4 war DER KÜNSTLICHE DILETTANT bzw. FEMME FATALE aus Hagen, 2 Namen, ein Mastermind, eine wilde Show. Denn der nur leicht übergewichtige Sänger ging derart in seinem aggressiven Minimalelektro auf, dass es eine helle Freude war. Er sprang, hetzte und tanzte über die Bühne, warf sich auf den Boden (der mittlerweile sauber sein musste…) und bediente nebenbei noch sporadisch die beiden E-Drums, ein neues Element an diesem Abend. Begleitet wurde er von einem Lorenz Macke-Lookalike an der Elektronik. Nach Veröffentlichungen beim französischen Label „Invasion Planete“ („Sag Nein!“) oder bei „Genetic Music“ („Prag Attack“, das auch in der Setlist war) konnte man auf einige Tracks zurückgreifen, die ein wenig als chaotische DAF-Mutationen durchgehen können, allerdings mit deutlich mehr Avantgarde. Im Publikum wurde das erste mal getanzt (SOLITUDE FX taten sich dabei besonders hervor) und auch mir gefielen diese harschen Klänge relativ gut, die erst gegen Ende etwas monotoner wirkten.
Es war schon weit nach Mitternacht und SÜTTERLIN verteilte zur Überbrückung der nächsten Umbauten Spekulanten, da warteten wir auf den Headliner SONNENBRANDT aus Hamburg. SONNENBRANDT, das sind 2 Herren plus Dame, die mit lässigem hanseatischen Charme auftraten. Frau Sonne (offensichtlich schwanger und mit niedlicher Zahnlücke), Herr Brandt und Kpt. Korg musizieren erst „richtig“ seit September 2003, als man überraschend gefragt wurde, ob man nicht im Dezember in der Schilleroper spielen wollte. Man wollte, man konstituierte sich und spielte nun zum westfälischen Debüt auf. Zum ersten Mal kam eine Gitarre zum Einsatz, zum ersten Mal auch die beiden Korg MS-20, die schon den ganzen Abend über auf ihren Einstand gewartet hatten. Wie mir mein weitaus technikvertrauterer Kollege erzählte, der Traum eines jeden analogen Keyboarders mit ganz spezieller Stringtechnik. Die bekanntesten Truppen, die Hits mit solchen Geräten fabriziert haben, waren die Synth Pop Ikonen früherer Tage. Später verfeinerten S.P.O.C.K. aus Schweden ihren Sound damit und live machte Keyboarder Cybernoid unglaubliche Sachen mit dem Teil. Der erste Song „Lüdenscheid“, der sich auch auf der Homepage befindet, wurde noch hinter geschlossenem Vorhang gespielt, ehe sich jemand erbarmte und im Anschluss daran Badekappen (!) ans Volk verteilte. Im weiteren gab man Stücke der ersten SONNENBRANDT-Single zum besten, wie „Urlaubsgruß mit Sonnenbrand(t)“ oder „Entweder oder entweder“. Es bildete sich vorne ein richtiger Tanzbereich, was auch nicht weiter verwunderlich war, denn das Trio bot eine im Vergleich zum Vorprogramm direkt mainstreamige Kost, die ein stückweit an WELLE:ERDBALL erinnerte. Schöne Synthies, einprägsame Refrains, doppelstimmig gesungen. Ein IDEAL-Cover („Monotonie“) sorgte für weitere Verzückung im mittlerweile doch etwas geschrumpften Publikum. Denn es war spät geworden, sehr spät und auch wir mussten gen Osten (nach Ostwestfalen) zurück.
Fazit: Die analogen Sounds leben, kompetenter Nachwuchs ist in Sicht und das mit durchaus unterschiedlichen musikalischen Herangehensweisen. Es müssen nicht immer die „großen“ Festivals ein, manchmal zahlt sich auch das Engagement einiger fanatischer Liebhaber aus, die hoffentlich in naher Zukunft mal wieder zum Tanz einladen.
Weiterführende Links:
SONNENBRANDT
SOLITUDE FX
FEMME FATALE/ DER KÜNSTLICHE DILETTANT
WERMUT
KERNKRACH
Copyright Fotos: Jörg Rambow
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