Ort: Warendorf - HOT
Datum: 12.11.2005
Elektrosmog im Selbstversuch, die 2te. Nach dem Erfolg des letztjährigen ersten Kernkrach-Festivals war es klar, dass die Mannen um Labelchef Jörg auch 2005 wieder ein schräg-wildes Happening auf die Beine stellen würden. Und ebenso selbstverständlich war natürlich auch die Teilnahme des Terrorverlags, der nunmehr zwar vorgewarnt ob der vergangenen Erlebnisse aber keineswegs weniger neugierig wieder den Weg in die Kreishauptstadt Warendorf antrat. Bereits um 18 Uhr sollte es losgehen, diese Zeitplanung hielten wir zwar für etwas verwegen, aber da wir natürlich nicht die kleinste Sekunde verpassen wollten, erreichten wir um kurz nach 6 das Jugendzentrum HOT. Und schon wurde deutlich, dass es dieses Jahr doch eine Nummer größer zugehen würde. Nicht nur, dass überall kleine Plakate mit der Aufschrift „Internationales Minimal Synth Festival“ befestigt waren, auch die Anzahl der bereits Anwesenden überschritt die Vorjahresmarke deutlich. Am Ende waren es immerhin 150 Zuschauer aus aller Herren Länder, die in Verbindung mit dem immer noch sehr fairen Eintrittspreis von 10 Euro für eine sichere Finanzierung sorgten. Die Bühne war zu diesem Zeitpunkt noch Vorhangs-verhangen, so dass man sich dem interessanten Angebot an Tonträgern widmen konnte, welches diverse Händler zur Auslage gebracht hatten. Auch hatte es leider beim Getränke-Angebot keine Änderung gegeben, also musste ich auf meine geliebte Cola Light verzichten. Dafür war ein mobiler Dönerschuppen vor dem Eingang in Stellung gegangen, der dann auch bestens frequentiert wurde, eine enorme Verbesserung zum Vorjahr… Derweil wuselte Jörg schon wieder emsig durch die Reihen schrägst Gekleideter, denn er hatte mit einem im wahrsten Sinne des Wortes ekligen Problem zu kämpfen. Die Toiletten waren überschwemmt, weil es Probleme mit dem Abwasserablauf gab, hoffentlich doch kein schlechtes Omen für das Festival? Ein energischer Anruf bei Hausmeister sorgte aber letztendlich für Entspannung, nur der Zeitplan war (erwartungsgemäß) schon wieder gehörig ins Hintertreffen geraten. Um 18 55 Uhr ging es dann los mit dem ersten Act, den irgendwie überhaupt niemand auf der Rechnung hatte!
Da stand denn ein junger Irokese zwischen Jörg und SÜTTERLINs Heinz, der offensichtlich ziemlich nervös anmutete, vorgestellt wurde er als SICKDOLL aus Münster. Dahinter steckt ein gewisser Marcel, der mir im nachhinein kurz die Hintergrundgeschichte des Gigs erläuterte. Er war am 8. Oktober diesen Jahres zusammen mit CAMERA OBSCURA in Hannover bei einem anderem Minimal-Festival aktiv, wo ihn der gute Jörg sah, mochte und gleich als Überraschungs-Opener unter Vertrag nahm. Früher spielte er in diversen in Vergessenheit geratenen Gothic Truppen Gitarre, nun „malträtiert“ er uralte Elektro-Gerätschaften, um damit einen sehr eigenen Klang zu erzeugen. Jedenfalls mutete sein Equipment doch gleichermaßen altertümlich wie interessant an. Ein offener PC mit Lüfter, eine Tastatur copyright by Schrottplatz (wo er das meiste Zeugs her hat), ein Monitor und ein Kuscheltier in Form eines Papageis, wohl sein Maskottchen. Die Stücke kann man vielleicht als Mischung aus Minimal Electro und 80er New Wave bezeichnen, mal eher verträumt, mal eher tanzbar. Dazu wollte Marcel eigentlich auch singen, was ihm aber aufgrund des nicht richtig eingestellten Mikros zunächst nicht gelingen wollte. Das ließ die Nervosität natürlich nicht sinken, aber der gute Mann schlug sich tapfer und hatte augenscheinlich auch einen eigenen Fanclub dabei, der ihn ordentlich anfeuerte. Als etwas störend empfand ich, dass er jedes Mal zwischen den Stücken eine längere Pause einlegte, um das jeweils nächste einzuprogrammieren, da ging ein wenig die Atmosphäre verloren, lag wohl daran, dass er einen neuen alten Synthie am Start hatte, mit dem er erst warm werden musste. Schon schräg, aber ausbaufähig, bald soll es auch eine Webpräsenz geben.
Um 20 Uhr ertönte dann die Sirene für den nächsten Act, den wir aus dem letzten Jahr noch in guter Erinnerung hatten: SÜTTERLIN Nachf. aus Bielefeld. Hatte Sänger Heinz Stelte im Vorjahr noch Spekulanten an die wartenden Fans verteilt, sollte es heuer noch einige Gimmicks mehr geben. Auf der Bühne wurde nun auch die Leinwand benutzt, auf die zunächst ein humoriger Abriss über die Entstehungsgeschichte der Musik projiziert wurde. Dann ging es mit „Kernkrach“, DER Hymne des Festivals gleich in die vollen, wozu die SÜTTERLINs sogar ein witziges Video mit Handpuppe erstellt hatten, die Meute war gleich begeistert. Neben Heinz und Keyboarderin/ Sängerin Hiltrud – beide in grünen Raiffeisen-Overalls – agierte noch ein dritter, ziemlich mexikanisch aussehender Herr an einem kleinen Drumkit. Man hatte also Zuwachs bekommen, wobei der gute Mann im Poncho als Pedro vorgestellt wurde, den man beim Arbeitsamt für den vakanten Platz des Percussionisten zugeteilt bekommen hätte. Bezahlt wurde er offensichtlich in Naturalien: So wurde er mittels Nachos angelockt und mit Tequila ruhig gestellt. Allerdings kann ich es mir bei dem heftigen Konsum des Kollegen kaum vorstellen, dass es sich dabei um echten Alk gehandelt hat. Wobei die immer abgedrehtere Performance dies sicher nicht ausschloss. So kamen beim Track „Ich mag keinen Käse“ (Songtitel vom Autor approximiert) Frau Antje und ihre bezaubernden 2 Gehilfinnen nach oben, um schließlich kleine Käsehäppchen zu verteilen. Dann gab es einen Weihnachtsmann mit Krücken, denn „Weihnachten fällt aus“… Hauptsache das Kernkrach nicht, kann ich da nur sagen. Weitere Klassiker wie „Altpapier“ rundeten den sehr launigen Auftritt ab, der natürlich noch mit einer Zugabe beschlossen wurde. Hierzu präsentierte man auf dem Beamer hervorragende Kulturschaffende der letzten Jahrzehnte wie HEINO, GOTTLIEB WENDEHALS oder ROY BLACK und kam zu der Erkenntnis, dass Musik nicht immer mit Qualität gleichgesetzt werden kann. SÜTTERLIN hatten das Haus heiß gerockt, so viel stand schon mal fest.
Danach sollte es noch heißer werden, denn ein BRANDSTIFTER aus dem schönen Mainz hatte sich angekündigt, um den Level am kochen zu halten. Da stand er nun, ein Herr im weißen Arztkittel, mit einem Keyboard auf dem Bügelbrett und brachte die musikalisch abgedrehteste Performance des Abends, so viel sei schon mal gesagt. Der BRANDSTIFTER, bürgerlich Stefan Brand (Jahrgang 1968) ist ein Vertreter der Kunst/ Antikunst und neben der Musik auch literarisch/ performancetechnisch unterwegs. Heute Abend präsentierte er recht schrägen, teilweise atonalen Minimal Elektro mit wahnwitzigen Texten auf Deutsch und Englisch, dazu bot er auch bewegungsmäßig einige Feinheiten. Er schrie, gestikulierte, wand sich am Boden, nutzte Gerätschaften wie ein Megaphon oder einen Propeller, den er am Mikro rotieren ließ (!). Die lyrische Seite schien sich im Bereich des Absurd-Politischen aufzuhalten, während der Track „Wer hat meine schwarze Katze gesehen?“ als eine Mischung aus DER PLAN und HELGE SCHNEIDER daherkam, wurden andernorts die Vereinigten Staaten aufs Korn genommen. Die Textzeile „Wir sind die Tommies des Ostens“ schien uns dabei eine Anspielung auf DAFs „Kebabträume“ („Wir sind die Türken von morgen“) zu sein, auch die Melodiefolge verhielt sich ähnlich. Jedenfalls wurde der Gig doch mit zunehmender Laufzeit zunehmend anstrengend, und wir waren ehrlich gesagt froh, als der Brand dann nach einer guten Stunde gelöscht war. Künstlerisch gesehen sicherlich eine reife Leistung mit Aussage, aber der Partygehalt war doch recht niedrig.
Dazu hatte man ja dann die nachfolgenden SONNENBRANDT aus Hamburg. Letztes Jahr noch Headliner durfte man nun als viertes auf die Bühne, was uns auf jeden Fall zupass kam, denn so war es gewiss, dass wir nicht wieder aufgrund fortschreitender Zeit das beste verpassen. Frau Sonne (Gesang), Herr Brandt (Gitarre/ Keys) und Kpt. Korg (guess what!) haben mittlerweile eine schöne EP bei Alexander Pohles NLW Label herausgebracht, zudem arbeitet man bereits am ersten Longplayer, für den dann auch kräftig Werbung gemacht wurde. Die Setlist war eine gute Mischung aus alt und neu, so dass zumindest die Besucher des Vorjahresfestivals einige Stücke mitsingen und –tanzen konnten. Der extrem gestiegene Alkoholpegel im Auditorium tat sein übriges dazu, dass der nun folgende Gig einem Happening glich. Die Mischung aus WELLE:ERDBALL, FRL. MENKE und SPILLSBURY ist aber auch perfekt dazu angetan, die Hüften kreisen zu lassen. Eingängig, treibend und dennoch hin und wieder auch melancholisch gab es unter den 9 Songs plus Intro keinen Ausfall zu beobachten. Lediglich mit der Technik wurde hier und da gehadert, so sang die gute Frau Sonne (nicht mehr schwanger, aber immer noch mit Zahnlücke) bei „Entweder oder Entweder“ in der falschen Tonlage, weil der Monitorsound nicht richtig funktionierte. Dazu passt die Aussage, dass der lokale Techniker von Bier zu Bier immer besser würde, hier hatte er wohl den richtigen Pegel noch nicht erreicht, was ihn aber nicht davon abhielt, ständig unmotiviert über die Bühne zu latschen. Exkurs Ende. Die Nordlichter performten alle 5 Lieder ihrer EP (u.a. „Radio“, die Bandhymne „Urlaubsgruss mit Sonnenbrand(t), die vertonte Ikea-Bauanleitung „Shmoockhalftslumbpa“) und präsentierten zudem 4 neue Kompositionen, die keineswegs abfielen, vielleicht wächst da wirklich etwas Großes heran. Mittlerweile tanzte der halbe Saal enthemmt durch die Gegend, was bei der Zugabe „Lüdenscheid“ seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Bitte im nächsten Jahr wiederkommen!
Über all dies Spektakel hatte man fast die Zeit vergessen, die unaufhaltsam Richtung Mitternacht schielte, und 2 Bands waren ja noch am Start. Nicht zu vergessen die Minimal Party, welche Jörg enthusiastisch ankündigte. Dazu überraschte er mit der Aussage, dass 70 Prozent der Anwesenden aus dem Ausland stammen (sollten)! Die beiden Weitestangereisten, ein Pärchen aus Amiland, holte er zum Beweis gleich mal auf die Bühne. Dann aber ging es weiter im Programm mit CLOSED UNRUH aus Hannover, ein Projekt des Szene-Urgesteins Thomas Tier Wolff, welcher in den 80ern bereits bei Punktruppen wie BLUT + EISEN aktiv war und sich nun schon seit einigen Jahren der Musikmontage gewidmet hat. Die MP3s auf der Homepage klangen relativ sperrig, und so war ich gespannt, wie man das live umsetzen würde. Zunächst mal überraschten eine lesende Frau mit Perücke unter der Trockenhaube sowie ein flackernder Fernseher, die links auf der Bühne drapiert worden waren. Ein näherer Sinn dieser Komposition erschloss sich über die gesamte Zeit nicht, wirkte doch ihre bunte Erscheinungsform extrem konträr zur Schwärze, die von der 4 köpfigen Formation ausging. Und das nicht nur optisch mit den entsprechenden Shirts, sondern auch musikalisch durch einen monoton depressiven Endzeit Elektro, der stoisch in die Zuschauermenge geprügelt wurde. Besonders der hagere Sänger mit Mütze überzeugte hier als Pendant zu LAIBACHs Fronter, der mit einer ähnlichen kargen Miene für kaltes Unbehagen sorgt. So gut mir die Musik auch gefiel, zu dieser Stunde und an diesem Ort wirkte sie deplaziert, denn die etwas lichter werdende Menge wollte feiern und war nach dem SONNENBRANDT-Event kurz vorher nicht unbedingt aufnahmebereit für total gegensätzliche Gefühle. So standen nur noch wenige Neugierige direkt vor der Bühne, während sich der Rest für den Headliner stärkte. Wirklich ein wenig schade, man hätte die Niedersachen einfach an den Anfang des Billings packen sollen, wie im Jahr zuvor WERMUT, wo noch die nötige Aufnahmebereitschaft vorhanden gewesen wäre. So aber waren dann glaube ich alle Beteiligten relativ glücklich, als es endlich vorbei war, und ich werde mir ganz sicher noch einige Tonwerke der „Unruhigen“ organisieren.
So ward denn schon längst der Sonntag angebrochen und die gute Luft im HOT gewichen, als der Headliner nahte, welcher für das diesjährige internationale Flair sorgte. Die HUMAN PUPPETS aus dem schönen Griechenland wuselten schon den ganzen Abend über aufgedreht durch die Reihen und hatten zudem auch einigen Anhang mitgebracht. Von den Proben hörte man nur Gutes, so sollte besonders die Nutzung alter russischer Analog-Synthies für einen extrem interessanten Klanggenuss sorgen. Veröffentlichungstechnisch hatte man sich bisher noch eher bedeckt gehalten, von einer EP auf dem hauseigenen Kernkrach-Label mal abgesehen. Bald soll es aber mehr Material geben, wieder von Jörg und Heinz produziert. An diesem Abend war der Technik Gott nicht gerade ein Südländer, denn von Beginn an hatten die beiden stylisch gekleideten Herren mit eben jener zu kämpfen. Dabei hatten sie sich links und rechts an ihren Geräten postiert, derweil die Leinwand für einige interessante Collagen genutzt wurde. Leider war dadurch auch die Lichtsituation extrem eingeschränkt, was den Fotos an dieser Stelle nicht gerade zu gute kam. Kaum hatte man mit dem Opener begonnen, war auch schon wieder Schluss, ein Gerät versagte seinen Dienst, und im Hintergrund wurde hektisch das richtige Kabel gesucht. Als es dann einigermaßen passte, wurde leider die Lautstärke dermaßen hochgedreht, dass der Körper zwar vibrierte, die Feinheiten aber etwas verloren gingen. Jedenfalls ging es im Publikum noch mal richtig ab, die letzte Gelegenheit die punkigen, militaristischen oder auch völlig normalen Leiber zu bewegen. Der Sound der Griechen kann man als melodischen und relativ reduzierten Minimal Electro bezeichnen, mit dazugehörigem „kalten“ Gesang. Allerdings traten wir dann auch bald danach die Heimreise an, von daher kann ich über die weitere Darbietung der „menschlichen Puppen“ nicht referieren, die zweifelsohne ihren Reiz hatten.
Wie im Vorjahr hatte man kräftig überzogen, wie im Vorjahr hatte man viele interessante Bekanntschaften gemacht und wie im Vorjahr allerhand Schräg-Interessantes goutiert. Wir können uns nur bei den Veranstaltern bedanken, die so etwas (in der Provinz!) möglich machen und all ihr Herzblut in ihre große Liebe investieren: Die elektronische Musik. Und für 2006 bitte nicht vergessen – aller guten Dinge sind 3! Vielleicht kann man ja die Zuschauerzahl noch mal verdreifachen, verdient hätte es das Kernkrach allemal…
Weiterführende Links:
CLOSEDUNRUH
SONNENBRANDT
BRANDSTIFTER
KERNKRACH
Copyright Fotos: Jörg Rambow
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