Ort: Rakvere, Estland - Sports Hall
Datum: 16.12.2005
Donnerstag, 15.12.:
Der Abreisetag beginnt um 4:45, als der Wecker klingelt und alle im zarten Schlummer ers(p)onnenen Traumlandschaften jäh dem Erdboden gleichmacht. Leider ist ein Gegen-die-Wand-Schleudern des Weckers (heute) keine Option, da wir uns um 6 Uhr zwecks Check-in am Flughafen Berlin-Schönefeld einzufinden haben, von wo aus unser Flug nach Tallin, Estland geht. Alle sind total verpennt, keiner kommt so recht aus den Puschen, und dennoch geht’s wenig später auf den Weg. Zack, Auto im Parkhaus abgestellt, zack, Equipment ausgeräumt und erst mal ab zur Gepäckaufgabe, die ohne Komplikationen vonstatten geht. Anders bei der Sicherheitskontrolle, wo Stefan erst einmal sein Leatherman-Taschenmesser loswird, das er vergessen hat aus seiner Gitarrentasche zu packen. Derweil werde ich, der ich das Mikrofon und die Wireless-Anlage unseres Frontmanns durch die Sicherheitskontrolle trage, erst einmal freundlich zu einer „Spezialkontrolle“, sprich einer Untersuchung auf Sprengstoffrückstände, zur Seite gebeten, bei der jedoch – wider Erwarten 😉 – nichts Verdächtiges gefunden wird.
Unser Flieger hebt pünktlich um 8 Uhr vom Flughafen Berlin-Schönefeld ab. Der Flug verläuft ohne Zwischenfälle, ich werde also nicht in meiner Vermutung bestätigt, dass der Billigflieger sich ca. 30 Sekunden nach dem Start in einem Feuerball in die Erde bohrt. Die Stimmung ist recht benommen, da wir alle aufgrund unserer nächtlichen Anreise nach Berlin nur ca. 3 Stunden geschlafen haben. Sowohl unsere Gehirne als auch unsere Fressen sehen also dementsprechend matschig aus. Ganz im Gegensatz zu den äußerst attraktiven an Bord befindlichen weiblichen Flugbegleitungen. An diesem Ende hat die Fluggesellschaft auf jeden Fall nicht gespart. Ob die Damen uns auch so gutaussehend finden, wage ich an dieser Stelle einfach mal zu bezweifeln… auf jeden Fall sind sie so freundlich, uns darauf hinzuweisen, dass das Tomate-Mozzarella-Baguette geschmacklich auf jeden Fall nicht das hält, was es optisch verspricht…Also wieder 5 Teuro gespart, die man wohl ohne diese Information auf den Kopp gehauen hätte…Den Rest des Fluges verbringen wir damit, verzweifelt nach einer Körperhaltung zu suchen, die ein einigermaßen komfortables Pennen erlaubt…Fehlanzeige.
Wir landen um ca. 11 Uhr Ortszeit in Tallinn. Dort warten wir erst mal ca. eine Viertelstunde auf unser Gepäck. Unsere Utensilien und Instrumente haben die Reise zu unser aller Erleichterung wohlbehalten überstanden. Wir klemmen uns unser Zeug unter die Arme bzw. verstauen es auf dem Gepäckwagen und dackeln erst einmal geschlossen in die Eingangshalle. Ein Blick aufs Thermometer verrät, dass draußen gemütliche -4°C herrschen. Also nehmen wir erst einmal wartenderweise Platz und machen uns ein paar warme Gedanken. Wenig später trifft der Veranstalter Gunnar ein, und wir machen uns bekannt. Als kleine Begrüßungsaufmerksamkeit bekommt jeder von uns ein „Green Christmas“-Feuerzeug geschenkt. Gunnnar hat seinen Kumpel Jan mitgebracht, der das Festival mit ihm zusammen organisiert und anscheinend zusammen mit seiner Freundin Kerstin als eine Art persönlicher Betreuer für uns fungiert. Wir wollen wissen, was mit der für heute angesetzten Radiosession (Interview + Liveauftritt) ist, woraufhin Gunnar uns mitteilt, dass diese leider gecancelt wurde. Die Überraschung hierüber mischt sich mit Erleichterung, da wir alle ziemlich müde sind und nur das nächste Bett herbeisehnen, wir Pussies…So ist es dann leider auch nicht mehr möglich, sich noch die Altstadt von Tallinn anzusehen. Stattdessen nehmen wir in Jans Auto (Gunnar ist noch anderweitig in Sachen Festivalorganisation unterwegs) Platz, der uns ins ca. 100 km entfernte Rakvere bringt.
Nach mehrstündiger Pennpause geht es erst einmal ins nächstgelegene Restaurant, wo wir uns die Wampe voll schlagen. Danach fahren wir weiter, um die Location in Augenschein zu nehmen, in der das Green Christmas Festival am nächsten Tag starten soll. Dabei handelt es sich um eine FETTE Sporthalle mit modernster Ausstattung. Dass das GC 2005 zuschauermäßig so ziemlich das Dickste sein würde, was wir bis dato gespielt haben werden, war uns schon im Vorfeld klar. Laut Veranstalterinformation fasst der Laden ca. bis zu 3000 Leute. Doch der Anblick der Halle selbst ist natürlich noch weitaus beeindruckender und imposanter als diese Zahl auf dem Papier. Alle sind sich einig, dass dieser Gig auf jeden Fall ein Highlight für uns werden wird. Dicke Location! Wir streunen erst mal ein wenig in dem verwinkelten Areal herum, und der Großteil der Band macht ausgiebig Gebrauch vom Fotohandy.
Nach der Besichtigung geht’s zunächst zurück zum Hotel, wo der weitere Verlauf des Abends geplant wird. Stefan, Tobi und ich sind uns relativ schnell einig, dass es noch VIEL zu früh ist, um sich in die Falle zu hauen, zumal man ja auch schon einen Großteil des Nachmittags verpennt hat, Tobi und ich zumindest. Stefan hat die Zeit hingegen zur kulturellen Weiterbildung durch Besichtigung der örtlichen Burgruine genutzt. Woher er jetzt noch seine Energie nimmt, ist mir ein Rätsel… wahrscheinlich wird er nur noch durch die Aussicht auf den verboten billigen Alkohol, der in der Eckkneipe gegenüber ausgeschenkt wird – und in die wir uns auch prompt begeben – angetrieben. Wo kriegt man in Deutschland schon ein qualitativ hochwertiges Pils und nen Wodka on the Rocks für 2 Euro 50? Den Rest des Abends verbringen wir also mit Trinken und Billard. Keine besonders fruchtbare Kombination, wie sich herausstellt… Außerdem verlangt noch ein wildfremder und ziemlich besoffener Typ, dass wir mit ihm zusammen ein Foto machen, und das, obwohl er noch nicht einmal zu wissen scheint, dass wir überhaupt Musik machen. Zumindest ist er auf dem Festival am nächsten Tag nirgendwo zu sehen. Später am Abend wird die Runde noch um unseren Schlagzeuger Sebastian erweitert, während unser Sänger wohl schon einen Haken an den Abend gemacht zu haben scheint… Als wir den Heimweg über die Straße antreten, haben wir alle schön einen im Arsch. Trotzdem wechsle ich im Vollsuff noch die Saiten auf meinem Bass. Hätte ich damit bis zum nächsten Tag gewartet, hätte ich sicherlich eine Menge Zeit gespart, denn die Feinmotorik hat sich schon so gut wie verabschiedet. Nach getaner Arbeit knipse ich dann auch endgültig die Lampe aus und penne mit einem Gefühl der Vorfreude ein.
Freitag, 16.12.:
Der nächste Tag beginnt erfreulicherweise ohne Kater, und ich bin sogar der erste am Frühstückstisch. Nach einer ausgiebigen Mahlzeit lege ich mich trotzdem noch mal hin, da der Soundcheck erst für halb 2 veranschlagt ist… Jan kutschiert uns zur Sporthalle, wo wir Gunnar zum ersten Mal wieder treffen, der uns mit Backstage-Pässen ausstattet (wieder einer für die Sammlung…yeah!) und uns unseren eigenen Backstageraum zuweist, der sich als Umkleidekabine für Sportler entpuppt.. Die Halle ist mittlerweile festivalgemäß umgebaut worden. Die Bühne ist wirklich sehr, sehr fett für unsere Begriffe…Wir absolvieren den Soundcheck unter Aufsicht von Jan, der sich unmittelbar vor der Bühne aufstellt. Nach einigen kleineren Schwierigkeiten ist der Monitorsound zufriedenstellend, und auch Jan stuft den Sound vor der Bühne als „fat“ ein. Dann kann es ja losgehen… erst wird aber natürlich noch mal gegessen, im selben Restaurant wie am Vortag. Unser Schlagzeuger und unser Sänger schießen hierbei den Peinlichkeitsvogel ab, indem sie versehentlich den gesamten Vorrat an Legosteinen aus der Kinderecke über den Restaurantboden verteilen. Unabhängig davon ist das Essen vorzüglich, und die Atmosphäre im Restaurant gewinnt durch eine nebenan stattfindende Kleinkinder-Weihnachtsfeier zusehends an Besinnlichkeit. Trotzdem eisen wir uns irgendwann los und machen uns wieder auf den Weg in Richtung Sporthalle.
Hier hat sich bereits eine beachtliche Anzahl von Metal-Anhängern eingefunden, die Halle scheint sich langsam zu füllen. Nächster Punkt auf unserer Metal-Tagesordnung ist eine Pressekonferenz. Zwar ist es unsere erste, doch ein gewisses Maß an Routine haben wir durch diverse Interviews bereits gewonnen. Die Pressekonferenz ist auf jeden Fall sowohl für die teilnehmenden Journalisten wie auch für uns eine interessante und bisweilen sogar belustigende Erfahrung. Danach wird erst einmal der Merchandising-Stand aufgebaut, an den sich sogar einige Besucher verirren…wir scheinen hier also doch schon einige Fans zu haben. Cool! Während ich in der Halle umherschlendere, rennt mir auf einmal Taavi in die Arme, den ich bereits im September bei der Hell on Earth Tour in Schweden getroffen habe. Er versichert mir, dass es auf jeden Fall voll werden wird bei unserer Show, und dass die Leute echt Bock auf uns hätten. Das steigert natürlich die Vorfreude! Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir die meisten Bands an diesem Abend relativ wenig sagen, da ich mich noch nicht sehr tiefgehend mit der hiesigen Szene auseinandergesetzt habe. Die meiste Zeit gammle ich am Merchandising-Stand ab, von wo ich der Show in der Halle zuhöre. Hierbei gefallen mir am besten die finnischen Kollegen von SINKING, die mit der einen oder anderen Doublebass-Attacke aufwarten und dem Publikum ganz gehörig in den Arsch treten. Die Show von WHISPERING FOREST ziehe ich mir dann von neben der Bühne aus rein. Die Band fährt u.a. ein Cello und einen mehrstimmigen Chor auf, aber ich kann mit der Musik trotzdem nicht so viel anfangen. Ist mir einfach ein wenig zu langsam und erscheint mir auch für diesen Zeitpunkt (als Vorband = anheizen!!!) nicht die allerglücklichste Wahl. Nach WHISPERING FOREST betritt die Industrial-NuMetal-Combo ZORG die Bühne und bringt das Publikum durch seine eingängigen Songs auf seine Seite. Der Frontmann weiß seine Stimme gekonnt und variabel einzusetzen, wobei er tatkräftige Unterstützung von einer weiblichen Backgroundsängerin erhält. ZORG kommen so gut an, dass sie ein ca. 45 minütiges Set runterrattern. Da man aber sowieso schon dem Zeitplan hinterherhinkt, bedeutet das für uns in der Konsequenz, dass wir unser Set um ca. 10 Minuten verkürzen müssen. Dennoch sind wir froh, als ZORG durch sind und wir endlich auf die Bretter dürfen. Der Ansager kündigt in einer Mischung aus Estnisch und Deutsch unseren Auftritt an, und wir werden vom Publikum euphorisch empfangen. Zum Dank knallen wir ihnen erst einmal „The World Devourers“ vor den Latz. Leider ist vom einwandfreien Monitorsound vom mittäglichen Soundcheck nur noch ca. die Hälfte übrig, und auf dem Schlagzeugmonitor ist der Sound zwischenzeitlich sogar komplett tot. So müssen wir uns ziemlich am Riemen reißen, aber dennoch bringen wir das Ding einigermaßen souverän nach Hause. Das Publikum scheint von den kleineren technischen Problemen auf der Bühne komplett ungerührt zu sein und schenkt uns noch eine Runde fetten Applaus. Mehr als genug Entschädigung für die Unzulänglichkeiten in Sachen Monitorsound, die dann aber auch relativ schnell behoben werden, so dass es direkt mit „Broken Spine“ weitergehen kann. In der ersten Reihe sieht man schon vereinzelt schwingende Matten, und auch wir posen auf der Bühne, was das Zeug hält. Weiter geht’s mit „Anthem of Despair“. Beim Mosher in der Mitte des Songs bildet sich ein ansehnlicher Moshpit, wie ich mir nach dem Konzert sagen lasse, der erste jemals in Estland. Obergeil! Wir legen euphorisch nach, diesmal gibt’s den brandneuen Titeltrack unseres nächsten Albums, „Let The Tempest Come“. Auch hier wieder allgemeines Geschubse und Gemoshe zu unser aller Zufriedenheit. „Walls Instead of Bridges“ wird ansatzlos hinterhergeschossen. Benny hat die Instrumentenfraktion mittlerweile auf der Bühne sich selbst überlassen und schließt an der Absperrung nähere Bekanntschaft mit dem Publikum. Später gesteht er, halb erregt, halb verschämt, dass ihm wohl während dieses Ausflugs jemand beherzt an seine Klöten gepackt hat. Tja, wer sich in Gefahr begibt… Auf jeden Fall scheint nach der Reaktion des Publikums zu urteilen, nicht nur diesem anonymen Grabscher unsere Musik zu gefallen, denn die Leute reagieren alle mit Begeisterung. Ein echt cooles Gefühl, grade weil man ja vorher noch nie hier war. So lassen wir uns auch nicht lange bitten und stimmen „Hibernating Reason“ an. Wir drücken in Sachen Posing noch mal mächtig aufs Gas, und das Publikum greift unsere Animierversuche gern auf. Die letzten Kräfte sparen wir uns aber dann doch für den letzten Schlag, „Where Submission Reigns“, auf. Mitten im Song tippt mir auf einmal jemand auf die Schulter, und siehe da! Irgendwie hat es mein Kumpel Taavi an den bulligen Security-Schränken vorbei zu uns auf die Bühne geschafft! Ich habe grad noch Zeit, ihn verdutzt anzugrinsen, als er auch schon Anlauf nimmt und einen olympiareifen Sprung über den Bühnengraben ins Publikum hinlegt. Krasser Typ. Übrigens ist auch das eine weitere Premiere. Taavi schwört nach der Show hoch und heilig, dass er heute den ERSTEN Stagedive aller Zeiten in Estland vollführt hätte. Hammer. Nach Taavis akrobatischer Einlage ziehen wir noch mal alle Posing-Register und lassen den letzten Part des Songs schööööön lang ausklingen, um den Jubel des Publikums auskosten und genießen zu können.
Nach dem Gig kommen von überall Glückwünsche, die wir dankend entgegennehmen. Zwar haben wir uns auf der Bühne wegen der Soundprobleme nicht immer behaglich gefühlt, aber die Reaktionen des Publikums lassen uns alle Schwierigkeiten vergessen. Den Rest des Abends verbringen wir mit Feiern und Gesprächen mit den Fans. Taavi kommt am Merchstand vorbei und stellt erst einmal das Riesenloch zur Schau, das er sich bei seinem todesmutigen Sprung zugezogen hat und das Stefan sofort per Fotohandy für die Nachwelt festhält. Derweil staube ich von Gunnar noch ein „Green Christmas“-Shirt ab als Erinnerung an diesen großartigen Abend. In der Zwischenzeit haben ANATHEMA bereits die Bühne betreten und mit ihrem Programm begonnen. Selbst zu solch fortgeschrittener Uhrzeit sind die Fans noch mit vollem Einsatz dabei, erst bei den allerletzten Songs beginnt sich die Halle langsam zu leeren. Nachdem wir noch ein Abschiedsfoto mit Kadri gemacht haben, treten auch wir die Heimreise an, um wenigstens noch maximal 4 Stunden Schlaf zu kriegen. Am nächsten Morgen geht es dann auch recht zeitig wieder zurück zum Flughafen in Tallinn. Wir verabschieden uns herzlich von Jan und Kerstin, schenken ihnen noch CD und Shirt und begeben uns dann zum Check-in. Wir verlassen Estland in der Gewissheit, eine Menge neuer Fans dazu gewonnen zu haben. Die Organisation, die Stimmung und der Enthusiasmus der Leute waren einfach nur super, und für uns fühlte es sich an wie ein Konzert in unserer Heimatstadt! Wir freuen uns auf jeden Fall jetzt schon auf ein baldiges Wiedersehen!
Offizielle Festivalhomepage: www.greenchristmas.ee/
Homepage NEAERA: www.neaera.com/
Hinterlassen Sie einen Kommentar.
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.