Ort: Berlin - Columbiaclub
Datum: 18.12.2004
Die Hörerclubtreffen von WELLE:ERDBALL haben ja mit ihrem ausladenden Programm schon einen regelrechten Kultstatus, und so war es nicht verwunderlich, dass auf die Karten zur „Hörerclubweihnacht“ ein regelrechter Run einsetzte. Für 10 Euro insgesamt vier Bands und ein versprochenes überlanges Konzert des Hannoverschen Radiosenders, das wollte man sich schließlich nicht entgehen lassen. Nach schier endloser Wartezeit vor dem Columbiaclub, was an falscher Einlasszeit auf den Karten lag, ging es endlich ins warme, wo ein kleiner schwarzer Weihnachtsmarkt zum stöbern und shoppen einlud. Schwarzer Krimskrams aller Arten, Merchandising, eine obligatorische C64-Ecke… man konnte sich durchaus noch tummeln, bevor der musikalische Teil beginnen sollte. Wen das nicht interessierte, der reservierte sich schon einmal die besten Plätze und wartete gespannt, was sich da auf der Bühne tun würde. Es sah schon einmal geheimnisvoll und vielversprechend aus, denn im hinteren Teil war ein großer Berg Gerätschaften mit schwarzer Plane verdeckt und verhieß Überraschungen für später.
Der erste Support war PROCCED, ein Duo aus der Nähe von Magdeburg. Mit einer Mischung aus Oldschool-EBM und Electroklängen, versuchte man die Zuhörer aus der Reserve zu locken, allein es wollte nicht recht gelingen. Sänger bzw. Shouter André stapfte wild über die Bühne, mangelnde Motivation konnte man ihm wirklich nicht vorwerfen, allein die Mischung aus Gebrülle, Musik vom Band und Synthiedrums riss niemanden so wirklich vom Hocker. Nach etwa einer Viertelstunde gesellten sich auch noch technische Probleme dazu, so fing das DAT-Gerät an, herumzuzicken, was zu Abbruch und Wiederaufnahme des Sets führte. Nach reichlich 20 Minuten gab es aber endgültig den Geist auf und bescherte PROCEED so ein vorzeitiges Ende, was niemand ernsthaft zu bedauern schien.
Nach einer verhältnismäßig langen Umbaupause betraten GRAPHIK MAGAZIN die Bühne. Das Line-Up sah ähnlich aus: Sänger, Musik vom Band, ein E-Drummer. Nur dass die Musik deutlich melodiöser ausfiel, erinnerte der 80er-Synthpop doch eher an alte ANNE CLARK. Auch der Sprechgesang von Mastermind Peter Montage ließ einige Parallelen erkennen. Sprachlich zwischen deutsch und englisch wechselnd behandelten die Lieder Themen wie Träume, Alltag, das Leben in der Konsumgesellschaft oder Kunst so zum Beispiel „John Heartfield“, welches dem gleichnamigen Maler und Graphiker gewidmet ist. Überhaupt präsentierten GRAPHIK MAGAZIN einiges vom aktuellen Album „Reklame und Schatten“, so unter anderem auch den Opener „Where have the years gone?“ oder „Talking to you“. Alles in allem war das vielleicht kein überragender Gig, aber man merkte doch einen qualitativen Quantensprung im Vergleich zur vorherigen Formation.
Dann wurde das obligatorische rote Schild wieder beleuchtet, die Kunstranken aufgestellt und die roten Keyboards verkabelt – Zeit für DUST OF BASEMENT! Nachdem ich die Berliner Synthpopper ja in abgespeckter Form schon vor einigen Wochen beim „Electronic Pleasures Festival“ gesehen hatte, war Sänger Peer jetzt wieder von der Grippe genesen und das Set beinhaltete demnach wieder ein paar mehr neuere Stücke und Sven musste keine größeren Gesangsparts mehr übernehmen. Durch die Lineup-Komplettierung wirkte alles auch etwas runder und ausgewogener, Peer und Birgitta harmonierten prächtig und der Sound war live durch die Integration des organischen Bassspiels ohnehin großartig. Ein besonders rührender Teil der Show, der keine Show war: Bei „Song of Sorrow“ zog Peer die hochschwangere Birgitta zu sich heran, legte den Arm um sie und trug Hand in Hand mit ihr das Lied vor. Nach einer sehr reichlichen halben Stunde war das Set dann mit „In This Sky“ abgeschlossen, man wünschte noch viel Spaß mit dem Hauptact und war verschwunden.
Dafür gingen jetzt die Geheimniskrämer ans Werk: am Bühnenrand wurde aus schwarzer Plane eine Sichtwand ausgerollt, die zwei arme Roadies die ganze Zeit über festhalten mussten, während dahinter gewerkelt und gebastelt wurde. Es dauerte scheinbar endlos, aber es war nichts zu machen, nicht ein kleiner Blick ließ sich erhaschen. Die ersten Müdigkeitserscheinungen machten sich bemerkbar, auch war das lange Stehen nicht jedermanns Sache. Es ging auf Mitternacht zu, wurde später und später… und siehe da, der Sichtschutz fiel und WELLE:ERDBALL standen inmitten einer aufwendigen Dekokulisse! Zwei Videoleinwände, auf welche Verkehrszeichen gebeamt wurden, synthetisches Schlagwerk für die Damen Soraya und Kay Cat, Pappkameraden, Dekosäulen. Der Jubel war groß, die Freude darüber, dass es endlich anfing, war noch größer. Mit „Schaufensterpuppen“ ging es pantomimisch in die Vollen, und das Publikum war mit den ersten Tönen sofort wie entfesselt. Schon auf dem WGT 2000 konnte ich erleben, wie eigentlich harmloser C64-Pop live einen Massenpogo entfachte und hielt es irrigerweise für ein Phänomen des dortigen Abends. Ich wurde eines Besseren belehrt: schieben, drängeln, hüpfen, alles war möglich zu den Klängen von „Wir wollen keine Menschen sein“ oder „23“. Brandneu spielten Honey und A.L.F. auch Stücke der aktuellen Vinylveröffentlichung „Horizonterweiterungen“: „Raumpatrouille Orion“ wusste ebenso zu begeistern wie „Mein Sternenkind“. Nach kurzer Zeit wechselten die Damen ihr 50er-Jahre-Outfit gegen hautenge schwarze Ledercatsuits, unmöglich aber, alles an Gimmicks und kleinen Details zu erwähnen, die bei der Bühnenshow Eingang fanden. Beim „Starfighter F-104G“ schoss Honey die üblichen Papierflieger in die tobende Menge, ein ganz Verrückter ließ sich sogar zum mehrmaligen Stagediving von der Grabenabsperrung aus hinreißen. Beim „Volksempfänger“ (mit Originalradio) ging es etwas besinnlicher zur Sache, hatte Honey doch erklärt, dass Soraya nach fünf Jahren bei W:E ihren Abschied nehmen würde und dies ihr letztes Konzert sei. Für „Arbeit adelt“ wurde aber wieder die Blechtonne hervorgeholt und munter darauf eingedroschen, der Columbiaclub tanzte sich in Ekstase. Man fuhr „VW Käfer“, man filmte mit „Super 8“ und verabschiedete sich damit fürs erste von der Bühne. Klarer Fall, dass hier nichts ohne Zugaben laufen würde, also ließen sich W:E nicht lange bitten und boten noch einmal einen ganzen Block mit 7 zusätzlichen Liedern. Mit „Monoton und Minimal“ noch ein Publikumsknaller, mit den „Moorsoldaten“ ein nachdenkliches Stück… vergeblich wartete ich aber darauf, dass Onkel Mario mit einem „Nyntändoschock“ getötet würde; der einzige Wermutstropfen in diesem ansonsten gnadenlos genialen Konzert.
„Es geht voran“ – der letzte Song und auch die Zeit war äußerst fortgeschritten, die Niedersachsen hatten tatsächlich über zwei Stunden gespielt, so dass außer totaler Erschöpfung und einem gewissen Glücksgefühl nicht mehr viel übrig war, während ich aufgekratzt und todmüde nach Hause fuhr. Hörerweihnachten 2004 – eine schöne Bescherung!
Setlist DUST OF BASEMENT
Isolation
Your Light
Boot Jack
Final Steps
Crown
Create The Silence
Fires
Genocide
Song of Sorrow
Romeo
Behind My Eyes
This Big Hush
In This Sky
Setlist WELLE:ERDBALL
Schaufensterpuppen
Gib mir mein Gefühl zurück
Wir wollen keine Menschen sein
Raumpatrouille Orion
23
Deine Augen
8-Bit Märchenland
Mein Sternenkind
Erschieße dich
Mensch aus Glas
Walkman
Starfighter F-104G
?
Volksempfänger
Die Computer verlassen diese Welt
Arbeit adelt
Tanz eiskalt
VW Käfer
Super 8
Kleptomanie
Wo kommen all die Geister her?
Monoton und Minimal
Elektrosmog
Fallen Schweben Fliegen
Moorsoldaten
Es geht voran
Copyright Fotos: Antje Wagler
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